Indrek Leivategija, Järvi Academy Youth Orchestra © Tõiv Jõul
Meisterschüler aus aller Welt folgen dem Trend „Work and Travel“ und formieren sich im Ostseebad zum Järvi Academy Youth Symphony Orchestra. Ihnen gelingt bei Schuberts Sinfonie in h-Moll „Die Unvollendete“ eine ergreifende Interpretation.
Ein großer Spaß ist Friedrich Guldas „Konzert für Violoncello und Blasorchester“ in der zweiten Hälfte des Abends. Die irrwitzigen Herausforderungen meistert Indrek Leivategija. Und wenn dann die Blaskapelle außer Rand und Band gerät, dann hält es niemanden mehr auf dem Stuhl.
Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 1 C-Dur, op. 21
Franz Schubert: Sinfonie in h-Moll, D 759 „Die Unvollendete“
Zugabe:
Remo Giazotto: Adagio in sol minore di Tomaso Albinoni (Fassung für Streicher und Orgel)
Friedrich Gulda: Konzert für Violoncello und Blasorchester
Indrek Leivategija (Cello)
Järvi Academy Youth Symphony Orchestra
Dirigent: Neeme Järvi
Pärnu kontserdimaja, 10. Juli 2024
von Petra und Dr. Guido Grass
Verführerischer Caféduft, und auf der Theke steht schon der Cognac. Pärnu und die Järvi-Familie laden zum XIV. Pärnu Music Festival in die estnische „Sommerhauptstadt“ ein. Junge Musiker nehmen an der Järvi-Akademie teil und werden unter der Obhut des Altmeisters Neeme Järvi zum Järvi Academy Youth Symphony Orchestra.
Neeme Järvi wird mit stehenden Ovationen empfangen
Schon beim Erscheinen des 87-jährigen Neeme Järvi gerät das vollbesetzte „kontserdimaja“ aus dem Häuschen: Standing Ovations noch bevor ein Ton erklungen ist. Wir sind gespannt, ob die hohen Erwartungen erfüllt werden.
Den bereitstehenden Stuhl nutzt der inzwischen 87-Jährige nur gelegentlich. Federnd in den Beinen führt er das Orchester durch Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 1 C-Dur.
Ein bisschen scheinen sich die Musiker und ihr Dirigent in den ersten drei Sätzen noch finden zu müssen. Es mangelt gelegentlich an Exaktheit, die das Feuer in die Musik bringt. Auch den dynamischen Umfang mehr nach unten auszunutzen, hätte gut getan. Wohlgemerkt, das ist Jammern auf hohem Niveau.
Mit dem vierten Satz blüht das Orchester jedoch auf. Hier ist es da, das Lodern und Brennen. Pauken und Trompeten geben mit scharfem Akzent den knallenden Beginn. Järvi treibt den Satz zügig voran. Das Orchester folgt ihm mit präzisem und differenzierten Spiel. Hier verwischt nichts, hier lebt die Melodie bis Tutti-Schläge der Sinfonie ihr Ende setzten.
Neeme Järvi dirigiert wie aus dem Bilderbuch
Dieses Niveau wird bei Franz Schuberts „Unvollendeter“ nicht nur gehalten, sondern nochmals übertroffen. Gleich von den ersten Takten an ist die Spannung da, wenn dunkel die Kontrabässe drohen und leise unheilvoll die Violinen hinzutreten. Järvi lässt der Musik die nötige Zeit den Bogen ganz allmählich, aber dafür umso kräftiger zu spannen.
Neeme Järvi dirigiert wie aus dem Bilderbuch, malt die Musik, gibt unmissverständliche Zeichen, führt auf liebevolle Weise, unterstützt und fördert. Das Ergebnis ist ein Ohrenschmaus.
Es ist ein Geheimnis der Musik, dass diese nicht nur von den schönen Melodien der Oberstimmen lebt, sondern dass diese nur wirken kann, wenn sie in der Mitte gestützt wird. Das weiß natürlich auch Järvi, der insbesondere im zweiten Satz den Celli Raum gibt. Von den Meisterschülern dürfen insbesondere die erste Klarinette und die Oboe ihr Können in beeindrucken Soli unter Beweis stellen.
Als Kölner freuen wir uns besonders über die Qualität des Publikums (!). Wenn am Ende die Violinen in kaum hörbarem Pianissimo verklingen, gibt es kein Husten und Räuspern, sondern einfach nur gebannte Stille.
Die erste Zugabe gibt es schon vor der Pause
Bereits vor der Pause erklatscht sich das begeisterte Publikum eine Zugabe.
Und was für ein Schmankerl! Mit einem Augenzwinkern betont Järvi gleich mehrfach, dass dieses der Feder Tomaso Albinonis entstamme. Und in der Tat dürfte wenigen der Komponist Remo Giazotto ein Begriff sein. Das populäre „Adagio in sol minore di Tomaso Albinoni“ wird bis heute häufig als das Adagio von Albinoni angekündigt.
Die Intensität, mit der das Jugendorchester spielt, ist unglaublich. Forte wird hier nicht laut, sondern im besten Sinne stark. „I could not hold back my tears as the organ began to play“, gesteht uns später eine der Violinistinnen. Wie recht sie hat. Den Taktstock mit beiden Händen fest umklammert treibt Järvi das Orchester zum Höhepunkt.
Das Publikum hält es nicht mehr auf den Stühlen. Zurecht lenkt Järvi den brausenden Applaus aufs Orchester. Doch es ist auch seine Leistung, in kurzer Zeit aus hervorragenden Musikern ein tolles Orchester zu formen.
Das Programm nach der Pause macht einfach Spaß
Wenn ein Jazz-Funk-Schlagzeug auf ein Cello trifft, eine Blaskapelle außer Rand und Band gerät und am Ende das Publikum beim Marsch mitklatscht, dann wurde Friedrich Guldas „Konzert für Violoncello und Blasorchester“ gespielt.
Dieses witzige Stück hält viele Überraschungen und Wendungen bereit. Man spürt den provokativen Geist der 70iger und Friedrich Guldas.
Indrek Leivategija spielt auf dem elektronisch verstärkten Cello waghalsige Funkrhythmen, während Trompeten, Hörner, Posaune und Tuba im Bigband-Sound schmettern. Und dazu tänzelt Neeme Järvi im weißen Sakko und schwarzer Fliege.
Unvermittelt bricht mit dem zweiten Satz der Funkrhythmus ab und weicht einem träumerischen Alpenpanorama-Idyll. Die Gitarre wird hier zur Zither, während Tuba und Hörner wie Alphörner klingen. Warm und sehnsuchtsvoll lässt Leivategija die Melancholie durchscheinen. Die Kapelle lädt zum Ländlertanz.
Im dritten Satz, der Solo-Cadenz, darf Leivategija sein ganzes Können zeigen. Waghalsige Doppelgriffe, Flageolett-Töne, kaum spielbare Tonsprünge – hier wird keine Schwierigkeit ausgelassen.
Über eine tänzerische Menuett-Einlage marschieren alle dann Richtung Finale. Zum Marschrhythmus der alpenländlichen Blaskapelle spielt das Cello wechselweise sehnsuchtsvolle Melodien und irrwitzige Läufe .
Dieses Stück wird gleichzeitig mit Humor und großer Ernsthaftigkeit vorgetragen. Eine heitere Stimmung erfüllt den Festsaal: Neeme Järvi scherzt mit den Musikern und dem Publikum. Weil es so schön war, lässt er gleich zwei Teile wiederholen – nicht zur Übung, sondern zum Vergnügen!
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 12. Juli 2024
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Es ist grossartig zu lesen, wie talentierte Meisterschüler aus aller Welt zusammenkommen, um unter der Leitung von Neeme Järvi beeindruckende Interpretationen zu präsentieren. Es scheint, als hätte das Publikum einen unvergesslichen Abend erlebt. Vielen Dank für diesen mitreissenden Bericht!
Thierry, Schweiz