Siegfried, Bayreuth 2024 © Enrico Nawrath
Hat Valentin Schwarz total versagt? – Eine Bemerkung zur aktuellen Diskussion
Richard Wagner
2. Tag der Erzählung: Siegfried
Simone Young, Dirigentin
Klaus Florian Vogt, Tenor
Ya-Chung Huang, Tenor
Tomasz Konieczny, Bassbariton
Ólafur Sigurdarson, Bariton
Tobias Kehrer, Bass
Okka von der Damerau, Mezzosopran
Catherine Foster, Sopran
Alexandra Steiner, Sopran
Festspielorchester Bayreuth
Valentin Schwarz, Inszenierung
Bayreuther Festspiele, 31. Juli 2024
von Dr. Andreas Ströbl
„Ring“-„Regisseur“ Valentin Schwarz hatte es ja im Frühjahr 2022 unverblümt und für alle les- und hörbar angekündigt – er würde den „Ring“ als Netflix-Serie inszenieren, und seitdem wird er für die Produktion gescholten und in Festspielhaus und Medien gnadenlos ausgebuht. „Hat in Bayreuth nichts zu suchen“, „Unverschämtheit“, „Frechheit!“ – so und ähnlich, oft beißend, tönt es seit der Premiere vor zwei Jahren durch die Gazetten und Blogs.
Hätte Schwarz verlautbart, ihn interessiere der psychologische und philosophische Hintergrund der Tetralogie als Regisseur nicht, dann hätte man ihm selbstverständlich zu Recht vorwerfen können, er habe das Thema verfehlt; „6! – Setzen!“.
Für die Jungspunde unter uns – ja, wir standen in den 70er-Jahren noch auf, wenn der Lehrer in die Klasse kam und auch, wenn besonderes Lob oder heftiger Tadel anstand, dann erhob man sich und erwartete entweder verbalen Balsam oder eine entsprechende Abwatschung.
Valentin Schwarz wird nun erneut wie ein Schulbub ausgeschimpft, als hätte er sich an einem Heiligtum vergangen. Ein Klassenkamerad des Rezensenten hatte verpennt, den „Zauberlehrling“ auswendig zu lernen und flugs neu gedichtet. Für das Ignorieren der eigentlichen Aufgabe gab es eine „6“, für die wirklich pfiffige Neukreation eine „1“.
Hat Valentin Schwarz die Vorlage ebenfalls ignoriert, dafür aber etwas ganz Eigenes geschaffen? Aber, anders als in der Schulgeschichte aus den späten 70ern, bekam Schwarz keine „3“, sondern oszilliert beständig zwischen Nachsitzen und Auszeichnung.
Der „Ring“, so Schwarz, sei etwas, an dem man als Regisseur nicht vorbeikäme, bekannte er im BR-Interview am 27. Juli 2022: „Da geht es wirklich darum, eine Position und eine Haltung zu finden, vielleicht auch in Widerwillen, aber vielleicht auch in großer Liebe. Und der ,Ring‘ wächst mit einem: Aus einem kleinen Kern, einem Nukleus, entsteht eine erste Idee und drumherum wuchert es dann sozusagen. Oder wie bei einem Baum, der immer mehr Äste und Blätter kriegt, kommen dann die ganzen Details dazu. Es ist eine Welt, die man erfindet.“ Klingt irgendwie auch nach Wagner bzw. einem nicht ganz kopflosen Konzept. Was ist also schiefgegangen? Oder anders gefragt: Haben diejenigen, die tatsächlich dieser Produktion die Treue halten, irgend etwas nicht kapiert?
Der Regisseur hat sich offenbar etwas dabei gedacht, aber auch trotz Original-Libretto und nämlicher Partitur ist die Geschichte selbst durch die szenische Umsetzung völlig verfremdet, ja teils unkenntlich gemacht wie bei einer Arnulf Rainer-Übermalung. Dieser Künstler hat ja in der Tat „aus Liebe und Vervollkommnungsdrang“ bereits existente Werke so lange übermalt, bis kaum mehr etwas oder gar nichts vom Original zu sehen war. Rainer ging es nicht um das „Zumalen“, sondern um ein besonderes Verhältnis zwischen Vorlage und Abdeckung. Um es mal spitzfindig zu formulieren: Hätte Schwarz „frei nach“ vor Wagners Namen schreiben müssen?
Der oder die Verfasser des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes gingen bereits sehr frei mit völkerwanderungszeitlichen bis hochmittelalterlichen Stoffen um und kombinierten sie teils, wie es gerade passte. Mit den Motivationsbrüchen, Inkonsequenzen und unlogischen Handlungssträngen plagen sich Germanisten seit der Wiederentdeckung des Epos im 18. Jahrhundert herum. Erst als Wagner aus altnordischer eddischer und Saga-Literatur sowie einem Teil des Nibelungenliedes, wiederum in mehr als freier Kombination und Interpretation, etwas völlig Neues schuf, funktionierte das Ganze, weil hier nichts Geringeres als ein echter Mythos aus dem Schmelztiegel gegossen worden war. Dieser Mythos im besten kulturwissenschaftlichen Sinne erklärt, wie Macht und Gier in die Welt kamen und mahnt, dass diesen die Liebe diametral gegenübersteht. Nicht umsonst hat der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss Wagners „Ring“ so geschätzt, denn wann hat jemand in der Neuzeit jemals einen Mythos geschaffen, zudem durch die geniale Leitmotiv-Technik die „Kunst des Übergangs“ zu höchster gesamtkunstwerklicher Meisterschaft erhoben?
Schwarz’ „Ring“ findet hier und jetzt statt. Um erneut aus dem Interview von 2022 zu zitieren, die „innerfamiliären Konflikte und Schicksale… haben eine unglaubliche psychologische Spannung. Und ich glaube, Realismus und Mythos schließen sich überhaupt nicht aus. Ich glaube tatsächlich, dass man den Mythos hier als Leitmedium der Gesellschaft und der Gesellschaftskritik auch durch das Musiktheater Richard Wagners wieder neu einführen kann. Und in dieser Kombination aus dieser sehr berührenden Psychologie gemeinsam mit dem wirklich mythologischen Fundament, was Wagner uns da bietet, darf dieser ,Ring‘ sehr universell sein.“
Wenn also, wie Mime die Angst beschreibt, „im Busen bang dein Herz erbebt“, dann ist die Psychologie gefragt und eine Inszenierung, die wie der geschätzte Kollege Axel Wuttke sagt, „die Bloßlegung der Machtstrukturen und der Manipulationen“ greifbar macht. „Das kommt ja von Wagner“, so Wuttke. „Bei ihm ist Wotan auch eine nur seine Ziele verfolgende Figur, der Macht über alles geht. Da zählen ja familiäre Bindungen und Werte überhaupt nichts. Das zeigt, zugegeben, manchmal etwas überbordend, dieser ,Ring‘ “.
Allen rigorosen Schwab-Maßreglern sei also zumindest mal ans Herz gelegt, auch zuweilen zwischen den inszenatorischen Zeilen zu lesen und zu einer etwaigen Relativierung apodiktischer Urteile auch die kulturhistorischen Vorlagen von ihrem angestaubten Sockel zu holen, um zu bemerken, dass da durchaus Legierungen glänzen, und nicht des reinen Goldes laut’rer Tand.
Frage an jedem Bayreuther Hotel-Frühstückstisch: „Und – wie fanden Sie es?“
Nun zum „Siegfried“ am 31. Juli: Neulinge der Inszenierung, die sich auf die Produktion einfach mal mit offenen Herzen einließen, erlebten selbstverständlich eine komplette Neuerzählung, die aber weniger wehtat als befürchtet. Es ist eben mehr eine sozialkritische Parallelgeschichte zur gewohnten Handlung.
Die am Ende eines heißen letzten Monatstages mit drei Vorhängen gefeierte Dirigentin Simone Young sagte in der vergangenen Woche im NDR-Interview in bezug auf den Schwarz-Ring sinngemäß, die Musik spräche für sich und da funktioniere eben auch eine eigenwillige szenische Interpretation. In der Tat ließ sich die glänzend dirigierte und vom Festspielorchester Bayreuth wundervoll transluzid umgesetzte Musik „an sich“ erleben, zumal mit fast durchweg ausgezeichneten solistischen Leistungen. Im Gespräch mit dem „Nordbayerischen Kurier“ betonte Young, Bayreuth sei das einzige Opernhaus, „in dem die Sänger häufig dem Orchester voraus sind“. Die Dirigentin kennt ja jede Note (und was dazwischensteht!) des Werks und legt einen großartig ausgewogenen, mitreißenden, ja feinfühligen „Siegfried“ hin. Aus dem klassischen Mischklang dringt jedes Instrument kristallklar hervor, gerade die Harfen zaubern goldene Klangtupfer.
Klaus Florian Vogt als Siegfried hat sich tatsächlich vom Knaben- zum Heldentenor gemausert und gibt den ungezogenen Buben mit etwas dunkler intonierter Jungmännlichkeit. Auch die spielerische Umsetzung ist absolut überzeugend; eine gute Personen- und Bewegungsregie sorgt ohnehin bei allen Mitwirkenden für ein agiles und zugewandtes Miteinander. Siegfrieds Schwert mit schmaler Klinge wirkt in dieser Inszenierung allerdings wie ein archaischer Fremdkörper und scheint eine Reminiszenz an historische Darstellungen zu sein. Da wäre die ja bereits existierende Pistole konsequenter gewesen.
Ya-Chung Huang ist ein köstlicher Mime und moduliert den Text ausgesprochen vielseitig; er jammert, keift, klagt und keucht. Nichts für Puristen, aber der Rolle unbedingt angemessen!
Nach „Rheingold“ und „Walküre“ hatte man die Befürchtung, dass Tomasz Konieczny seinen Wanderer gleichermaßen mit oft verschmierten Vokalen und gurgelndem Unterton gestalten würde. Aber offenbar hat er sich die Kritik der vergangenen Tage zu Herzen genommen, Diphthonge sind als solche erkennbar und so steht hier eher kraftvolle Aggression im Vordergrund als prollige Primitivität – was irgendwie auch zu dieser Interpretation passt. Die höherliegende tessitura im „Siegfried“ kommt ihm hörbar entgegen.
Sein – hier – Zwillingsbruder Alberich muss in dieser Auslegung natürlich nahezu auf Augenhöhe agieren, was Ólafur Sigurdarson problemlos in stimmlicher und spielerischer Präsenz gelingt. Schöne Szene, als die beiden einträchtig mit einem Whisky vor der Kaminfeuer-Attrappe sitzen, während im Vordergrund das Familiendrama seinen mörderischen Lauf nimmt!
Tobias Kehrer ist ein ekelhafter Familiendrache in Gestalt eines trotz aller hinfälligen Pflegebedürftigkeit übergriffigen und undankbaren Sabbergreises mit grandiosem Bass, den er durch Röchelgeräusche passend unsympathisch erweitert. Es macht Siegfried nicht gerade sympathisch, wenn er dem noch so widerlichen Alten den Rollator wegstößt, was einen Herzanfall zur Folge hat. Diese Familie kann man gar nicht mögen wollen!
Allerdings ist die Szene herzergreifend, als Siegfried dem misshandelten Pflegemädchen (dem Waldvogel) mit ein paar Happen aus seiner mitgebrachten Nudel-Box füttert und ihm seinen Mantel umlegt. Alexandra Steiner spielt die junge Frau zwar sehr lebhaft und mit wunderschöner Stimme, aber leider ist kaum ein Wort ihres Textes zu verstehen – wobei sie hier nicht aus irgendeinem Geäst oder Hintergrund, sondern von der Vorderbühne aus singt.
Umso klarer ist die Diktion von Okka von der Damerau als blinde Erda, mit warmer Weiblichkeit und natürlicher Autorität.
Das gesangliche Sahnehäubchen des Abends wird von Siegfried aus den Bandagen geklaubt, indem er Brünnhilde von der störenden Mullbindenmaske aus der kosmetischen Klinik befreit. Die szenische Darstellung ist nicht zu Gänsehautmomenten angetan; man muss die Augen schließen, um die pure Schönheit der Musik zu genießen. Aber Catherine Foster läßt die befreite Seele der erwachten Walküre ebenso stark wie sensibel aufblühen, ihre Höhen sind so schlank und klar wie aufragende Lilienstengel mit sich öffnenden weißen Blüten im Zeitraffer. Das Schlussduett der Liebenden ist überragend und als der Vorhang fällt, bricht der Jubel los, langanhaltend und mit Fußtrappeln. Das Publikum ist glücklich an diesem heißen Sommerabend – und die Diskussionen um die Inszenierung sind erstmal auf Eis gelegt.
Dr. Andreas Ströbl, 1. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Siegfried Tiroler Festspiele Erl, 8. Juli 2024
Siegfried, Musik und Libretto von Richard Wagner Deutsche Oper Berlin, 18. Mai 2024
Richard Wagner, Siegfried Hessisches Staatstheater Wiesbaden, 31. März 2024