Sonnenuntergang Kampen © Jörn Schmidt
Paula Hansen hat den Syltern einen reetgedeckten Backsteinbau oberhalb des Keitumer Kliffs gestiftet. Seit 1985 ist der Bau als Bürgerhaus, Treffpunkt und Veranstaltungsort selbsternanntes Wohnzimmer der Sylter. Das friesische Gemäuer hat bestimmungsgemäß Biikeessen, Petritanz, Flohmärkte, Ausstellungen, Familien- oder Betriebsfeiern, Jubiläen, Bälle und Konferenzen über sich ergehen lassen. Und jetzt das, der Saal eine Bruchbude. Was war passiert?
Peter Tschaikowsky (1840-1893) / Romeo und Julia, Fantasie-Ouvertüre (Arr. Vladimir Mendelssohn)
Helena Winkelman (*1974) / Ignis für Piccolo und Cello URAUFFÜHRUNG
Sergei Rachmaninow (1873-1943) / Presto aus Six moments musicaux Op. 16
Georges Bizet (1838-1875) / Fantasy Carmen für 4 Violinen und Kontrabass (Arr. Julian Milone)
Karlheinz Stockhausen (1928 – 2007) / Tierkreis Leo (Arr. Helena Winkelman)
Manuel de Falla (1876-1946) / Pantomima y Danza ritual del fuego from El amor brujo
Max Bruch (1838-1920) / Streichoktett
Besetzung:
in order of appearance: Priya Mitchell / Violine, Annette Walther / Violine, Kinga Wojdalska / Viola, Pieter de Koe / Cello, Claude Frochaux / Cello, Todor Markovic / Kontrabass, Irina Zahharenkova / Klavier, Roy Amotz / Flöte, Helena Winkelman / Violine, Tim Crawford / Violine, Animato Quartett (Inga Våga Gaustad / Violine, Tim Brackman / Violine, Elisa Karen Tavenier / Violine, Pieter de Koe)
Friesensaal, Keitum, Sylt, 1. August 2024
von Jörn Schmidt
Claude Frochaux is back in town, zusammen mit Malte Ruths richtet er hier das Kammermusikfest Sylt aus. Schon zum 12. Mal. Das endete mit dem Streichoktett B-Dur op. posth. von Max Bruch. Sie können jetzt sagen, die Überschrift meiner Kolumne war aber eine ziemliche plumpe Tour, die Klickrate für Klassik-begeistert zu erhöhen. Aber so einfach ist das nicht. Vertraut man Wikipedia, dann hat Bude im Mittelhochdeutschen, im Schwedischen und Englischen gar keinen negativen Beiklang. Gemeint sind unter u.a. Hütte, Haus, kleine Wohnung oder Marktbude. Und wenn man in so einer Bude Max Bruch spielt, dann wird aus dem schnuckeligen Friesensaal plötzlich eine Bruch-Bude.
Und zwar ganz und gar wunderbar. Man muss sich in die Lebenssituation von Max Bruch hineinversetzten, als er das Oktett komponiert hat. Frau und Kind tot, er selber todkrank. Musikalisch war klar, dass seine Zeit vorbei ist. Max Reger, Richard Strauss und Claude Debussy begannen, Max Bruch zu überflügeln. Wie geht man als 82-jähriger mit so einer schwierigen Lebensphase um? Bruch macht das Beste, was man als Komponist tun kann, und feiert den eigenen gediegenen Schönklang mit einem neuen Werk.
Dieses Werk geriet am heutigen Abend indes alles andere als todtraurig, was man ja eigentlich hätte erwarten können. Das Finale ist ohnehin tänzerisch geprägt, aber auch das Adagio, dem oft ein pochender Klanggrund, gleich einem müden Herzschlag, attestiert wird, wurde im Friesensaal mit eleganter Rhythmik angegangen. Das Klangbild hatte sinfonischen Glanz und orchestrale Fülle, so hebt man Kammermusik auf eine andere Ebene.
Ist sonst noch was zu Bruch gegangen? Immerhin ist die Komponistin der Uraufführung, Helena Winkelman, dafür bekannt, Rock, Volksmusik und asiatischen Traditionen in ihre Werke einfließen zu lassen. Hat das die Besucher angeleitet, wie auf einem Konzert der Rolling Stones das Mobiliar zu zerlegen – Nordfriesen sind schließlich dafür bekannt, wahre Feierbiester zu sein? Mitnichten, Sachbeschädigungen liegen Nordfriesen nicht. Die klatschen höchstens mal an der falschen Stelle, oder waren es doch die zahlreich vertretenen Touristen?
Auch musikalisch kam kein Rock ’n’ Roll auf die Bühne. Hätte man mich bei Strafandrohung gezwungen, zu komponieren, hätte ich Ignis, also ein Stück über Feuer, zweifelsohne mit dem genialen Gitarren-Riff aus Smoke on the Water begonnen. Hätte prima gepasst: Sylt hat Wasser, Feuer (Biikebrennen) und früher gab es hier sogar ein Spielkasino. Damit es nicht so nach Abschreiben aussieht, hätte ich das dann Klangcollage genannt.
Helena Winkelman hat das nicht nötig, so plump geht eine Komponistin von Weltrang nicht vor. Alle musikalischen und außermusikalischen Inspirationen werden nicht direkt in das Werk übernommen, sie werden sehr subtil Teil der Helena Winkelman eigenen Klangsprache. Mehr dazu können sie in dem Interview lesen, das ich hier bei Klassik-begeistert mit Claude Frochaux und Helena Winkelman geführt habe. Wenn man so will entsteht ein Klangraum, in den man sich einfühlen kann. Lässt man sich darauf ein, begegnen einem alle Motive wie schwerelos, und man wähnt sich beim Biikebrennen. Ein anderer denkt vielleicht schon an das Sylvester-Feuerwerk.
Sehr gelungen war der Weg zu Max Bruch, Claude Frochaux hatte Karlheinz Stockhausen intelligent mit Manuel de Falla gekoppelt. Unmittelbar nach der Pause erklang Tierkreis Leo auf einer dunklen Bühne im toten Winkel der Konzertbesucher, ohne Unterbrechung schlossen Pantomima y Danza ritual del fuego from El amor brujo auf der eigentlichen Bühne an. Das war brillant gemacht.
Auch vor der Pause gab es feinste Kammermusik auf die Ohren. Romeo und Julia geht immer, Carmen auch. Erst recht, wenn so gekonnt arrangiert wie von Vladimir Mendelssohn und Julian Milone. Ich möchte gleichwohl mit Max Bruch schließen. Aus gegebenem Anlass: Sein Oktett wurde auch als Konzert für Streichorchester editiert. Also, lieber Claude Frochaux: Holen Sie bitte ein Kammerorchester nach Sylt! Auch dafür gibt es auf der Insel eine schicke Bude, mögen sich viele neue Förderer und Sponsoren bei Ihnen melden.
Jörn Schmidt, 1. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Claude Frochaux Vorschau Kammermusikfest, 12. Juli 2024
Auf den Punkt 20: Max hat Prüfungsangst klassik-begeistert.de, 7. Juli 2024