Berliner Philharmoniker © Stephan Rabold
Kathedrale ja, aber durchaus ohne Weihrauch: Die Berliner Philharmoniker bieten in Frankfurt beeindruckend Anton Bruckners fünfte Sinfonie dar.
Anton Bruckner (1824-1896) – Sinfonie Nr. 5 B-Dur
Alte Oper, Frankfurt, 12. November 2024
von Brian Cooper, Bonn
Wer sich anderthalb Stunden vor Konzertbeginn in der Alten Oper einfindet, hat zuweilen Gelegenheit, Ulrike Kienzles kenntnisreich und humorvoll vorgetragene Vorlesungen zu erleben. (Das Wort „Konzerteinführung“ griffe für die einstündigen Vorträge der Reihe „Kienzles Klassik“ viel zu kurz.) Die langjährige Verfasserin exzellenter, luzider Programmheft-Texte warnte ihr Publikum im vollbesetzten Vortragssaal: „Sie sollten gleich hellwach sein!“
Und ja, Bruckners Fünfte, hier von den Berliner Philharmonikern am Vorabend einer USA-Tournee gespielt, ist nicht leicht zu hören, sie ist auf den ersten Blick gar ein zerklüftetes Werk. „Niemals mit der Fünften anfangen, lieber mit der Sechsten!“, riete ich denn auch einem Bruckner-Novizen. Lässt man sich allerdings auf die Musik ein, vielleicht mit ein klein wenig Vorbereitung, erlebt man ein beeindruckendes Stück Musikarchitektur, das Bruckner selbst als sein „kontrapunktisches Meisterstück“ betrachtete.
Dabei schadet es nicht, sich ein paar interessante Details vor Augen zu führen: Drei der vier Sätze beginnen mit pizzicati in den zumeist tiefen Streichern; dabei sind die Tonarten des Kopf- und Finalsatzes (B-Dur) sowie der beiden Binnensätze (d-Moll) identisch, wie auch die ersten Töne.
Dr. Kienzles Feststellung, Tod und Trauer seien ein Aspekt des Erhabenen, könnte förmlich als Motto über diesem Abend stehen. Denn an Melancholischem, an Todesnahem, herrscht in dieser Sinfonie kein Mangel; zugleich verweisen die immer wieder erstrahlenden Choräle im Blech auf eine mögliche Existenz des Göttlichen.
Musikalische Kathedralen
Und hier sind wir auch schon bei des Pudels Kern: Sehr oft liest man über Bruckner, er habe musikalische Kathedralen komponiert. Gerade in der Fünften scheint sich dies zu bewahrheiten, scheinen die Generalpausen, insbesondere nach strahlenden Blecheinwürfen, wie für eine Aufführung in einer Kathedrale geschrieben. An diesem Dienstag wurde die Alte Oper zur Kathedrale.
Nur muss auch das Publikum mitmachen. Und für Frankfurter Verhältnisse war es ungewöhnlich unruhig. Gerade im Kopfsatz, der mit exquisiten Basszupfern begann, die sukzessive von aus dem Nichts kommenden Bratschen und den weiteren legato einsetzenden Streichergruppen überlagert wurden, kamen aus etlichen Winkeln des Konzertsaals so viele Hust-und Niesgeräusche ausgerechnet in besagten Generalpausen, dass man den ungeschriebenen Loriot-Sketch schon vor Augen bzw. Ohren hatte. Ein Herr in Reihe 10 verließ noch während des Kopfsatzes rücksichtsvoll den Saal, was seine Begleiterin allerdings im Adagio mehrfach zum Smartphone greifen ließ.
Sie verpasste folgerichtig eine Fülle schöner Details, die Kirill Petrenko seiner Wunderharfe zu entlocken wusste. Alles floss fabelhaft dahin, Albrecht Mayers Oboe erhob sich klagevoll über leisen Streichern, und der Dur-Schluss wirkte wie ein tiefer Seelentrost, der leider von Zwischenapplaus geschändet wurde. (Und das, obwohl explizit im Programmheft darum gebeten wird, man möge doch bitte von Applaus zwischen den Sätzen absehen.)
Das Scherzo begann nachgerade hektisch – nicht, dass die Berliner das nicht könnten, aber ein wenig mehr Auskosten hätte ich mir schon gewünscht. Hingegen gelang das Trio fabelhaft, mit mehr Ruhe und geradezu bauernhochzeitmäßig-bukolisch.
Petrenkos pathosbefreite Lesart lässt für die Zukunft aufhorchen
Auch wenn nicht alles perfekt war (zwei, drei vernachlässigbare Passagen im Solo-Horn und in den ersten Violinen), so war es doch in meinem Hörerleben (Hörer-Leben, Hör-Erleben) eine der besten Darbietungen der Fünften, denen ich beiwohnen durfte. Die Choräle im Blech gehörten zum Allerfeinsten, was man sich für diese Sinfonie wünschen, sich überhaupt in dieser Besetzung erhoffen kann. Die Doppelfuge, das unbeschreiblich gelungene Zusammenführen aller Motive sowie die geniale Schlussapotheose, bei der sich dann auch endlich feuchte Augen und Gänsehaut ob so viel Schönheit einstellten, ja, das war schon sehr, sehr groß. Das Handyklingeln zu Beginn des letzten Satzes, immerhin ebenfalls in B-Dur, war frevelhaft, unnötig und unwürdig.
Im Orchester hingegen gab es so viele schöne Klänge: Wenzel Fuchs’ kecke Klarinette bewies, wie man auch nur zwei Töne gestalten kann; dann die kraftvollen Bässe aus der Tiefe; das markige Motiv aus vier Tönen, das an des Komturs „Don Giovanni!“ gemahnt; und dann immer wieder diese Durchhörbarkeit in einem eminent komplexen Werk, die freilich auch der Orchesteraufstellung – erste und zweite Violinen saßen einander gegenüber – geschuldet war. Petrenko verstand es aufs Vorzüglichste, auch im forte winzigste Details hörbar zu machen, die auch ausgewiesene Kenner(innen) der Fünften staunen lassen dürften.
Und wer seinen Celi und seinen Wand kennt, Letzterer in seinen finalen Bruckner-Aufnahmen mit eben diesem Orchester, den Berlinern, erlebte mit Petrenko so manche Überraschung. So gar nicht weihevoll erklang diese Fünfte, sondern geradezu entstaubt, ohne Pathos und ohne Weihrauch. Auch das darf als legitime Lesart gelten. Es ist des Chefs erster Ausflug mit den Berlinern in die Bruckner’schen Kathedralen-Gefilde. Seien wir gespannt, wie es weitergeht.
Dr. Brian Cooper, 13. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Johann Sebastian Bach, Matthäuspassion BWV 244 Frankfurt, Alte Oper, 16. März 2024