Spät, aber gründlich – manche Offenbarungen müssen sich langsam entfalten

Symphoniker Hamburg / Josef Špaček / Jiří Rožeň  Laeiszhalle, Großer Saal, 24. November 2024

JIŘÍ ROŽEŇ © Zdeněk Sokol

SYMPHONIKER HAMBURG / JOSEF ŠPAČEK / JIŘÍ ROŽEŇ

Dvořák: Prager Walzer & Violinkonzert a-Moll / Brahms: Tragische Ouvertüre / Martinů: Sinfonie Nr. 6

Laeiszhalle, Großer Saal, 24. November 2024

von Harald Nicolas Stazol

„Der Song ist voll geklaut!“ sagen meine Künstlerfreunde, als ich sie  als meine persönlichen musikalischen Crash-test-dummies einsetze, und Bohuslav Martinů vorspiele im Atelier, nahe der Elbphilharmonie, kam doch dessen 6. Symphonie an einem sonnenstrahldurchtränkten Sonntag zur Aufführung in der Laeiszhalle (mit Staatsoper mein Bermudadreieck gewissermaßen), und nun werden eben Meinungen eingeholt, so, wie im Block steht: „Soundtrack von Catch me if you can!!!“

Denn siehe! Ich verkündige Euch ein Geheimnis: Bohuslav Martinů. Es ist eine lange Tradition der Symphoniker Hamburg, ungewohnte und selten gehörte Werke aufzunehmen, und den Kennern in der Laeiszhalle vorzutragen, und so ist der Martinů gewissermaßen eine Erfahrung, von der anzunehmen ist, dass man sie so schnell nicht wieder hören wird: „Das ist nicht so ganz mein Fall“, sagt mein Begleiter Baptiste, „c’est un peu Hollywood.“ – ein wenig? Nein, in den flächigen Lautsymbolen dieser seiner 6. Symphonie von 1953 zeigt sich nicht nur außergewöhnliches Talent. Sondern auch etwas Hinreißend-weg-Mitreißendes, das genau an den Schluss des Konzertes passt, und so ist es kein Wunder, dass der Dirigent Jiří Rožeň sich so ins Zeug legt, dass man kurz seine nackte Taille sieht – was in einem Frack wie dem Sir John Eliot Gardiner nicht passiert wäre – hier aber zeigt sich Hingabe und Kraft und Dynamik, die dem auf das Perfekteste harmonisierten Orchester gut ansteht.

Ich erinnere genau, wie Martha Argerich bei der Pressekonferenz vor ihrem Festival sagte, eher flüsterte „Die Konzerthalle lebt“ – und so habe ich die Theorie entwickelt, dass das Konzerthaus seit seiner Eröffnung am 4. Juni 1908 seit 116 Jahren vermittels aller der wunderbaren Klänge Abend für Abend, also, grob überschlagen, etwa 40000 Abende lang, darin selbst so etwas wie vorgestimmt ist, das damals modernste Haus der Welt, eingestimmt und auf guten Ton gebracht, wie eine sehr alte Violine, und wie ein alter Bordeaux vielleicht, klanglich immer besser wird. Der Beweis?

Das Violinkonzert von Antonín Dvořák

Auftritt Josef Špaček. Ein Schlacks von einem Generation-Golf-Genie, nun gilt es jedenfalls, die Ohren anzulegen, Antonín lässt ja ab Auftakt kein Auge trocken: Es gibt Melodien, die man in höchster Not oder Stresssituationen oder auch zum Einschlafen in der Art tibetanischer Gebetsmühlen vor sich hinsingt… in den drei Sätzen dieses tschechischen Wunderwerkes – da wirkt Josef Špaček schon Wunder – finden sich für mich derer drei:

Josef Špaček © Radovan Subin

Josef Špaček, den ich fortan nur noch kosend-neckend Spacey nenne, nun, für meine Begriffe, und auch die Baptistes, wir wagen kurz zu flüstern, da wiegt er sich schon wieder wie eine Weide im Wind, manchmal wie ein Fechter in den Ausfallschritt beim Höllenritt über die Saiten, von Seite zu Seite sich werfend – wirklich zieeeeeeemlich abgespaced! Der Junge ist meine 2. Entdeckung des Abends. Deckungsgleich offenbar auch die Intendantenloge – wo um Gottes Willen findet man denn mal eben solche Leute? Professor Daniel Kühnel vermag es. Noch ein Wunder, aber dies nur als Aperçu.

Fakten, Fakten, Fakten verlangt der Herausgeber, und so verlassen wir den gigantisch genialen 3. Satz, immer noch grandios und voller Grandezza Josef Špaček, Spacey, ich werde Deine Karriere mit ausgesuchtem Interesse verfolgen, „Moi aussi“, lässt Dir Baptiste ausrichten! ICH kann nur sagen: WEITER SO!

Ein ganz tragischer Brahms mag nach der Pause da ganz gut sein, man ist auch auf dem Vorplatz – kurz ein paar Züge – allenthalben hocherfreut, „welche Eleganz, was für eine Körperspannung…“ – und wirklich, kaum erheben Maestro seine Hände, beruhigen sich die Gemüter etwas, und ich freu mich im Stillen, denn ich kenne es nicht, das Stück meines liebsten Hamburgers, meine dritte Neuentdeckung.

Und dann strebt man leise und angeregt plaudernd den Mänteln zu, wir standen wirklich lange, ja, es wurde auch gejohlt, und gepfiffen, hinaus auf den sonnendurchfluteten Johannes-Brahms-Platz, und singt eine der Melodien des Violinkonzertes vor sich hin.

Aber welche, das verrate ich nicht. Nur soviel: Es ist ein Volkslied.

Harald Nicolas Stazol, 29. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Auf den Punkt 34: Show me your bells! Elbphilharmonie, 24. November 2024

Mahler Chamber Orchestra, Yuja Wang Elbphilharmonie, 23. November 2024

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert