Unerbittlich mahlen die Mühlen des Gerichts

Gottfried von Einem, Der Prozess  Kammeroper Wien, 12. Dezember 2024

Robert Murray (Josef K.), Fabian Tobias Huster (Kafka) © Herwig Prammer

 “Der Prozess” von Gottfried von Einem ist ein packendes, frappierend aktuelles Werk. Die Koproduktion des MusikTheaters an der Wien und der Neuen Oper Wien ist musikalisch beachtlich, szenisch allerdings nicht immer leicht verständlich.

Gottfried von Einem
Der Prozess

Libretto von Boris Blacher und Heinz von Cramer
Arrangement für kleines Orchester von Tobias Leppert

Koproduktion des MusikTheaters an der Wien in der Kammeroper mit der Neuen Oper Wien

Regie: Stefan Herheim
Bühne: Silke Bauer
Kostüme: Nina Paireder
Licht: Franz Tscheck

Klangforum Wien PPCM Academy
Musikalische Leitung: Walter Kobéra

Kammeroper Wien, 12. Dezember 2024

von Dr. Rudi Frühwirth

“Der Prozess” nach dem unvollendeten Roman von Franz Kafka ist die zweite Oper von Gottfried von Einem. Die Uraufführung bei den Salzburger Festspielen 1953 war – nach “Dantons Tod” im Jahr 1947 – wieder ein großer Erfolg für den Komponisten. Sie wurde bald auf anderen großen Bühnen nachgespielt; in der Wiener Staatsoper war sie zuletzt im Jahr 1970 zu sehen. Die Produktion mit dem grandiosen Gerhard Stolze in der Rolle des Josef K. hat mich damals mächtig beeindruckt. Umso größer war mein Interesse an der Neuinszenierung in der Kammeroper.

Gottfried von Einem. Quelle: AEIOU.at © Harry Weber, Wien.

Im recht kleinen Theater am Fleischmarkt  kann die Oper nur mit reduzierter Besetzung aufgeführt werden. Die Bearbeitung von Tobias Leppert sieht nur etwa zwanzig Orchesterstimmen vor: abgesehen von den drei ersten Geigen sind alle Instrumente nur einfach oder doppelt besetzt. Dennoch ergibt sich ein beeindruckender Orchesterklang, der im kleinen Saal der Kammeroper nie die Originalbesetzung vermissen lässt. Daran hat neben den exzellenten Mitgliedern des Klangforums Wien auch der Dirigent Walter Kobéra großen Anteil, der die hinter der Bühne platzierten Instrumentalisten zu einer unglaublich präzisen und höchst expressiven Spielweise animiert.

Die Komposition weist etliche Jazzelemente auf und ist fast durchgehend stark rhythmisch betont. In manchen Szenen steigert sie sich zu einem hämmernden Ostinato, das die Unbarmherzigkeit des fortschreitenden “Prozesses” genial in Musik übersetzt. Der Roman und die Oper beschreiben ja nicht nur den undurchsichtigen juristischen Prozess, sondern auch den dadurch ausgelösten Verfallsprozess des Josef K., der anfangs naiv seine Unschuld betont, aber langsam seinen Glauben an die Gerechtigkeit verliert und nach und nach zu verstehen lernt, dass es im Räderwerk des Gerichts nicht um Schuld und Unschuld geht, und schon gar nicht um die Suche nach der Wahrheit. Der Prozess ist vielmehr die Manifestation der Willkür einer anonymen und unsichtbar bleibenden Bürokratie, die ihre Tentakel tief in alle Lebensbereiche ausstreckt. Wer dabei an die Verfasstheit nicht bloß der totalitären, sondern auch der demokratischen Systeme unserer Zeit denkt, liegt wohl nicht ganz falsch.

Philipp Schöllhorn (Onkel Albert), Robert Murray (Josef K.), Leo Mignonneau (Der Kanzleidirektor), Timothy Connor (Advokat) © Herwig Prammer

Der schottische Tenor Robert Murray sang und spielte den Josef K. Er beeindruckte mich mit Intonationssicherheit und Textverständlichkeit. Allerdings fehlt seiner Stimme eine gewisse Leichtigkeit und Geschmeidigkeit, sodass sie über weite Strecken etwas angestrengt wirkte. Mir ist zwar bewusst, dass in der Uraufführung der Heldentenor Max Lorenz den Josef K. sang; für mich wäre trotzdem ein Charaktertenor wie der unvergessliche Gerhard Stolze die Idealbesetzung.

Die Sopranistin Anne-Fleur Werner gab alle Frauenrollen, stimmlich beachtlich und mit bewundernswertem körperlichem Einsatz. Sie wusste auch fein die darstellerische Gestaltung der verschiedenen Figuren zu differenzieren: Lüstern als Fräulein Bürstner, ungehemmt als Frau des Gerichtsdieners, verführerisch als Leni.

Robert Murray (Josef K.), Anne-Fleur Werner (Die Frau), Valentino Blasina (Der Student) © Herwig Prammer

Hervorragend war auch der Bassist Alexander Grassauer in den Rollen des Franz, des Fabrikanten und des Geistlichen. Vor allem als letzterer verkörperte er die Macht des Gerichts stimmlich wie darstellerisch höchst beeindruckend. Philipp Schöllhorn gefiel mir mit seinem kräftigen Bass als Untersuchungsrichter wie auch als Onkel Albert. Die weiteren Rollen waren adäquat mit Studierenden von drei Kunstuniversitäten in Wien und in Graz besetzt.

Die Inszenierung von Stefan Herheim beginnt unauffällig; dass Josef K. im ersten Akt die Maske des Komponisten trägt, ist ein guter Einfall, vor allem wenn man weiß, dass von Einem im Jahr 1938 mehrmals von der Gestapo abgeholt und tagelang verhört wurde, ohne je den Grund zu erfahren – als pure Einschüchterung vermutlich sehr wirkungsvoll. Auch dass Franz Kafka, gespielt von Fabian Tobias Huster, auf der Bühne präsent ist, ist ein diskutabler, wenn auch nicht sonderlich erhellender Regieeinfall. Im zweiten Akt gerät die Inszenierung dann auf seltsame Wege. In der dritten Szene hat Josef K. plötzlich den Bart und die weißen Haare abgelegt und tritt in jungenhafter Wanderkleidung auf, was so gar nicht zum Prokuristen einer großen Bank passt. Der Kanzleidirektor entpuppt sich als der Gekreuzigte mit seinen Stigmata. Was der Regisseur damit intendiert, konnte ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ich gebe aber gerne zu, dass die letzten beiden Szenen wiederum sehr gut gelungen waren, vor allem das Gespräch im Dom, untermalt mit einem Ostinato, das der Szene höchte Dramatik verlieh. Das Zusammenspiel von Musik und Gestik war in dieser Szene beispielhaft. Insgesamt war die Personenführung sehr dynamisch und hatte keine Scheu, auch allerhand Obszönitäten anzudeuten.

Anne-Fleur Werner (Die Frau), Timothy Connor (Advokat), Robert Murray (Josef K.), Philipp Schöllhorn (Onkel Albert) © Herwig Prammer

Da die Bühne in der Kammeroper recht klein ist, hat sich Bühnenbildnerin Silke Bauer auf das Notwendigste beschränkt: ein großes Bett und ein Schreibtisch/Klavier für die Innenräume, ein Kronleuchter für die Szene im Dom. Die hintere Bühnenwand ist transparent, sodas das Orchester in vielen Szenen vage zu erkennen ist. Die Kostüme von Nina Paireder sind sehr suggestiv, vor allem die für Anne-Fleur Werner entworfenen. Auch erinnern die Uniformen der Wächter, die Josef K. verhaften, mehr an eine psychiatrische Klinik als an einen polizeilichen Wachkörper.

Dank dem Klangforum Wien, seinem Dirigenten Walter Kobéra und den genannten Sängerinnen und Sängern verlief der Abend musikalisch sehr zufriedenstellend, was vom Publikum auch hörbar honoriert wurde. Einige Aspekte der Inszenierung blieben mir unverständlich, was den Gesamteindruck des Abends aber nicht wesentlich beeinträchtigte. Denn wie “Dantons Tod” ist auch “Der Prozess” eine Oper, in der in jedem Takt die Theaterpranke des Komponisten unverkennbar spürbar ist.

Dr. Rudi Frühwirth, 10. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung

Josef K.: Robert Murray
Die Frau: Anne-Fleur Werner
Franz/Der Fabrikant/Der Geistliche: Alexander Grassauer
Willem/Advokat: Timothy Connor
Der Aufseher/Der Kanzleidirektor: Leo Mignonneau
Der Student/Titorelli/1. Junger Mann: Valentino Blasina
Gerichtsdiener/Der Passant/2. Junger Mann: Lukas Karzel
Der Untersuchungsrichter/Onkel Albert/3. Junger Mann: Philipp Schöllhorn
Kafka: Fabian Tobias Huster

„Melos und Logos“, Gottfried von Einem und HK Gruber Oberdürnbach, Kirche zur Hl. Katharina, 24. Juni 2023

Gottfried von Einem, Der Besuch der alten Dame, Wiener Staatsoper

Gottfried von Einem, Dantons Tod, Gärtnerplatztheater München, Premiere, 11. Oktober 2018

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert