Foto: © Wilfried Hösl
Leoš Janáček, Aus einem Totenhaus, Bayerische Staatsoper,
München, 30. Juli 2018
von Raphael Eckardt
Mit Leoš Janáceks Oper „Aus einem Totenhaus“ läuft in München derzeit eine Produktion, die nicht nur durch herausragenden musikalischen Interpretationsgeist besticht, sondern auch durch teilweise beinahe reizüberflutendes Bühnenspektakel für Furore sorgt. Kurzum: Eine ganz besondere Theatershow, die all das zu bieten hat, was der geschulte Opernbesucher von einem echten Castorf erwartet. Hinter einer imposanten Büste des in Russland teilweise als Halbgott verehrten Politikers Wladimir Iljitsch Lenin bestechen beeindruckende Live-Videos auf riesigen Screens mit Szenen aus dem Inneren des Bühnenlebens, im Vordergrund führen tragikomische Männer in Unterwäsche durch private Mythologien, die auch auf den zweiten oder dritten Blick nicht ganz klar zu entschlüsseln sind.
Frank Castorfs Inszenierung enthält viel Liebe zum Detail, verdichtet sich hier und da aber zu einem so hochkomplexen Bühnentreiben, dass sich bei großen Teilen des Publikums hörbar Überforderung und Unmut breitmachen. Das ist vor allem deshalb schade, weil sich – zumindest im Auge des geschulten Opernbesuchers – das sehr wohl kontrollierte Chaos eigentlich immer wieder zu Einsichten verdichtet. Parallelaktionen auf Leinwand und Bühne verschmelzen an entscheidenden Dramaturgiepunkten zu einer kunstvoll verflochtenen Einheit, symbolische Politisierung, wie etwa eine Werbesäule eines bekannten Getränkeherstellers als Zeichen für den kapitalistischen Westen, gelingt auf außergewöhnlichem Niveau. Da ist man in München wieder an dem Punkt angelangt, an dem dynamische und innovative Kunst beim konservativen Klassikpublikum aufgrund von Unverständnis und wenig Wohlwollen auf völlig überzogene Ablehnung stößt. Leider!
Eigentlich wird nämlich auch durch Castorfs Inszenierung schnell deutlich, wie sehr Janácek Dostojewskis Roman durch seine Opernvertonung für sich vereinnahmt hat. Obwohl die Handlung in einem sibirischen Gefangenenlager spielt und die Musik sich Grauen, Folter und Leid eindrucksvoll zu nähern versucht, gewinnt am Ende auch ihre Schönheit Oberhand über die zuvor dominierenden kriminellen Seelen.
Castorf gibt sich als Dostojewski-Fan ersten Grades. Immer wieder schießen seine maßlos überzogen beschleunigten Bilderfluten über ihr eigentliches Ziel hinaus, finden aber genau in diesem Prozess ein für Janáceks Musik unabdingbares ordnendes Element. Den bei Janácek symbolisch stets hochbedeutenden Adler vereint Castorf kurzerhand mit der Hosenrolle des jungen Tartaren (Evgeniya Sotnikova). Ein Schachzug, der deshalb so brillant funktioniert, weil Sotnikova eine sängerische Leistung von einem anderen Stern auf’s Parkett zaubert. Mit sanfter, aber dennoch beeindruckend füllender Stimme gibt sie einen Aljeja zum Besten, der wahrhaftig über dem Münchner Nachthimmel zu schweben scheint. Kein einfaches Unterfangen bei Janáceks musikalischer Komplexität, Sotnikova gibt sich dennoch als musikalisches Prisma, das aus einer Fülle an Farben wunderbare Nuancen extrahiert und stimmlich fein intoniert zelebriert. Pianissimi und Fortissimi rauschen da im immer stärker werdenden musikalischen Strudel bedrohlich nahe zusammen, feine Motive hüpfen spielend über die wild reißenden Wellen der vom Orchester inszenierten musikalischen Sturmflut. Mit welcher Sicherheit Sotnikova sich da scheinbar mühelos durch den wilden Dschungel dieser hochkomplexen Orchesterpartitur windet, ist schwer beeindruckend. Chapeau, die Dame, das war ganz, ganz große Klasse!
Peter Mikulas als Aleksandr Gorjancikov steht seiner weiblichen Mitstreiterin da eigentlich in nichts nach. Der als Paradiesvogel eingekleideten Sotnikova gleich zu Beginn die Beine streichelnd, dürfte Mikulas so manch andere Dame im Publikum ebenfalls gehörig „die Ohren“ verdreht haben. Mit warmwohligen Tiefen im samt dahingleitenden Bassmeer gelingt ihm ein idealer gesanglicher Gegenpart zur doch eher frech auftretenden Sotnikova. Feine, schier endlos dahingleitende Wellen bahnen sich unaufhaltsam ihren Weg durch das Münchner Opernhaus. Alles scheint mit einer samtgoldenen, mystischen Aura überzogen, hier und da blitzen beeindruckende Spitzentöne auf, die sich anschließend aber unmittelbar wieder ihren Platz im musikalischen Konvolut zu suchen wissen. Ja, dieser Peter Mikulas scheint wahrlich ein musikalischer Zauberer aus einer anderen Welt zu sein! Phänomenal!
„Aus einem Totenhaus“ impliziert viele kleine und mittlere Nebenrollen, die die Bayerische Staatsoper nicht minder grandios zu besetzen weiß. Aleš Briscein als Luka, Charles Workman in der Rolle des Skuratov und Bo Skovkus als Siskov können nicht nur sängerisch, sondern auch schauspielerisch voll und ganz überzeugen.
Der eigentliche Star des Abends ist dann aber Dirigentin Simone Young, die ihren aufstrebenden Ruf als „Münchner Janácek-Spezialistin“ auch diesmal eindrucksvoll unterstreichen kann. Die pompös anmutende und teilweise kontrovers entgegenlaufende Musik Janáceks gehört ohne Zweifel zur Königsdisziplin des klassischen Dirigierhandwerks. Das Bayerische Staatsorchester und Young bieten an diesem Abend eine Show, die auch dem eher theateraffinen Opernbesucher noch lange in Erinnerung bleiben wird. Akribisch akzentuierte Scherzo-Figuren einer tremolierend aufflimmernden Solovioline verschmelzen wellenartig mit schroffen Geräuschkonturen, die teilweise gar von klassischen Werkzeugen erzeugt werden. Youngs Interpretation von Janáceks systematischem Musikchaos widmet sich der Betonung von kontrastären Momentaufnahmen, die vor allem durch Melodienreichtum zu bestechen wissen. Phänomenal!
Selbiges gilt für einen furios aufgelegten Münchner Opernchor, der spezifisch akzentuierte Sprachmelodien mit gekonnter melodischer Färbung zu veredeln wusste. Dass dann auch noch die dem Opernchor oft nachgesagten, rhythmischen Schlampereien gänzlich vermieden werden konnten, sollte dazu führen, dass eine beeindruckende musikalische Darbietung in höchster Weise veredelt werden konnte. Danke München, für diesen tollen Abend zum Ende der diesjährigen Opernfestspiele!
Inszenierung, Frank Castorf
Musikalische Leitung, Simone Young
Bühne, Aleksandar Denić
Kostüme, Adriana Braga Peretzki
Licht, Rainer Casper
Video, Andreas Deinert, Jens Crull
Dramaturgie, Miron Hakenbeck
Chor, Sören Eckhoff
Aleksandr Petrovič Gorjančikov, Peter Mikulás
Aljeja, ein junger Tartar, Evgeniya Sotnikova
Luka, Aleš Briscein
Skuratov, Charles Workman
Šiškov, Bo Skovhus
Großer Sträfling / Sträfling mit dem Adler, Manuel Günther
Kleiner Sträfling / Verbitterter Sträfling, Tim Kuypers
Platzkommandant, Christian Rieger
Der alte Sträfling, Ulrich Reß
Čekunov, Johannes Kammler
Betrunkener Sträfling, Galeano Salas
Koch (Sträfling), Boris Prýgl
Schmied (Sträfling), Alexander Milev
Pope, Peter Lobert
Dirne, Niamh O’Sullivan
Don Juan (Brahmane), Callum Thorpe
Kedril / Schauspieler / Junger Sträfling, Matthew Grills
Šapkin / Fröhlicher Sträfling, Kevin Conners
Čerevin / Stimme aus der kirgisischen Steppe, Dean Power
Wache, Long Long
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
Raphael Eckardt, 1. August 2018
für klassik-begeistert.de
„Aus einem Totenhaus“ ist die beste Neuproduktion der abgelaufenen Münchner Opernsaison. Musik, Bühnenbild, Regie, Dirigentin und SängerInnen (plus der lebenden tierischen Darsteller) alles auf höchstem Niveau und wie aus einem Guss. Das verstehe ich unter Gesamtkunstwerk! Bravissimo und vielen herzlichen Dank für diese eindrucksvollen eineinhalb Stunden!