Foto: Rätzke (c)
Chicago Symphony Orchestra, Riccardo Muti;
Alfredo Catalani: Contemplazione;
Richard Strauss: Don Juan / Tondichtung nach Nikolaus Lenau op. 20;
Piotr Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36;
Elbphilharmonie Hamburg, 15. Januar 2017
Im Ranking der besten amerikanischen Orchester spielt das Chicago Symphony Orchestra von jeher in den Top 5 mit. Kein Wunder, bei Chefdirigenten wie Riccardo Muti! Seit 2010 leitet der italienische Maestro diesen Luxusklangapparat. Dass das Publikum in Chicago diesem charismatischen Pultzuchtmeister regelrecht verfallen ist, spiegeln die ständig neuen Rekorde bei den Konzertticket-Verkäufen wider.
Jetzt waren Muti und seine Mannschaft zwei Abende lang hintereinander als erstes ausländisches Orchester im Großen Saal der Elbphilharmonie zu Gast. Es war für alle der insgesamt 4200 Besucher ein unvergleichliches Musikerlebnis.
Beide Abende waren Klassik in Perfektion. Nach dem ersten perfekten Abend, legten die Musiker aus dem US-Bundesstaat Illinois noch einen zweiten perfekten Abend am Sonntag hin. Das war wirklich Weltklasse, liebe Musikerinnen und Musiker aus Hamburgs Partnerstadt Chicago.
klassik-begeistert.de war schon vom ersten Auftritt des CSO rundum begeistert und titelte: „So hört sich Perfektion in der Elbphilharmonie an“. https://klassik-begeistert.de/chicago-symphony-orchestra-riccardo-muti-elbphilharmonie-hamburg/
Der zweite Abend war ebenso perfekt, ergreifend, ja himmlisch. „Devine“, würde der Amerikaner sagen. Wahrlich: Der Luxusklangkörper vom Lake Michigan hat einen unvergesslichen Eindruck in der Hafenstadt „An der Elbe Auen“ hinterlassen.
klassik-begeistert.de-Leser Dr. Holger Voigt hat es nach dem ersten CSO-Konzert wunderbar auf den Punkt gebracht: „Ein Erlebnis, das ich zeitlebens in mir tragen werde, ein Blick in das musikalische Paradies. Das dynamisch übergangslose und transparente Erklingen von Fortissimo- und Pianissimo-Phasen war schlichtweg unglaublich. Wie im Pianissimo ein gehaltener Ton quasi in die Unendlichkeit verklingen kann, ist irgendwie nicht von dieser Welt. Das Publikum war durch sein Husten und Räuspern an diesen Passagen geradezu beleidigend zu den Musikern. Warum ist das in Hamburg nicht zu beheben? Ein grandioser Abend ließ sich dadurch nicht beeinflussen – danke an unsere Gäste aus Chicago!“
Auch die Hamburgerin Astrid Weinreich, die gemeinsam mit ihrem Ehemann Henning Schwarzkopf und ihrer Tochter Nathalie Schwarzkopf noch an der Abendkasse Tickets erworben hatte (!), war restlos begeistert: „Die Atmosphäre im Großen Saal der Elbphilharmonie ist wirklich beeindruckend. Die Architekten haben ganz große Arbeit verrichtet. Und die Musik erklingt ganz wunderbar. Die Auswahl der Stücke war großartig. Ich war sehr berührt und werde wiederkommen.“
Besonders im Vergleich mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester, das am Sonntagvormittag unter Thomas Hengelbrock unter anderem den „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn Bartholdy spielte, wurde deutlich:
Die Hamburger Formation ist ein sehr gutes Orchester. Die Formation aus Chicago ist ein herausragendes Orchester.
NDR ist für deutsche Verhältnisse weit oben. Chicago ist in der Welt ganz oben.
Vor allem die Blechbläser des CSO zeigten auch am Sonntagabend wieder, wie rein und fein Trompeten und Posaunen erklingen können. Die Musiker des NDR könnten in Sachen Präzision noch einiges vom CSO lernen. Bei der Muti-Truppe agieren die einzelnen Klanggruppen als Einheit. Im Gegensatz zum NDR Elbphilharmonie Orchester sind bei den Chicago men and women keinerlei Unstimmigkeiten zu hören.
Das wunderbare „Contemplazione“ von Alfredo Catalani stammt aus dem Jahre 1878 und heißt übersetzt so viel wie „Beschaulichkeit“ und „Betrachtung“. Mit seiner großen Besetzung und seinen beinahe sphärischen Klängen ist es ganz dem spätromantischen Klangideal verpflichtet. Das Werk ist eines der lyrischsten Stücke des Komponisten. Fast die ganze Zeit über dominiert ein weicher Streicherklang, über dem sich die Bläser entfalten können. Der Charakter ist durchgängig ruhig und meditativ – die Melodie kommt nie zum Stillstand.
Wer wie klassik-begeistert.de das große Glück hatte im Parkett in der zweiten Reihe gleich hinter dem Dirigenten zu sitzen, der wird die unglaubliche Spielfreude des Konzertmeisters und Violinisten Robert Chen und die Klangvollkommenheit dessen 1. Geige nicht vergessen. Thank you, Robert, amazing!
Danach Richard Strauss: „Don Juan“, uraufgeführt 1889. Als Strauss sich 1888 an die Komposition der Tondichtung machte, war er ein noch relativ unbekannter Nachwuchsdirigent von gerade 24 Jahren und auch als Komponist noch nicht sonderlich aufgefallen. Erst der intensive Kontakt mit der Musik von Franz Liszt und Richard Wagner (der in zweiter Ehe die nichteheliche Tochter Liszts mit der Schriftstellerin Gräfin Marie d’Agoult, Cosima, heiratete, die wiederum mit dem Dirigenten Hans Freiherr von Bülow verheiratet gewesen war) beflügelte ihn. Von beiden schaute sich Strauss ihre größten Errungenschaften ab: von Wagner die kunstvollen Harmonien, die Idee der Leitmotive und den effektvollen Einsatz der Orchesterinstrumente – von Liszt das Konzept der „Sinfonischen Dichtung, also der Ansatz, Bilder und Geschichten mit Musik nachzuerzählen.
Das Progammheft gibt den Zuhörern einen guten Hinweis: „Für Sie als Hörer gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder Sie lehnen sich zurück, genießen einfach die Musik und behalten dabei lediglich im Hinterkopf, dass es wohl um ein strahlendes Heldenpathos und schwärmerische Liebe geht. Oder Sie versuchen, der Geschichte von Don Juan zu folgen, die Richard Strauss hier doch sehr plastisch in mehreren Episoden erzählt.“
Großartig dann die Sinfonie Nr. 4 von Piotr Tschaikowsky nach der Pause. Noch nie hat klassik-begeistert.de das Pizzicato Ostinato der Streicher im dritten Satz so homogen und so klangschön gehört wie an diesem Abend. Alle Musiker haben hier ihre Bögen zur Seite gelegt und zupfen ihr Instrument. Beim Hörer kommt das an wie aus einem Guss – keine allerkleinste Unsicherheit ist hörbar. Wonderful!
Lassen wir abschließend Piotr Tschaikowsky zu Wort kommen, der sein Werk der Mäzenin Nadeshda von Menck erläutert hat:
„Die Introduktion ist der Kern der ganzen Sinfonie und ohne Zweifel deren Hauptgedanke. Es ist das Fatum, das Schicksal, das wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern hängt. Es ist unbesiegbar. Man muss sich ihm unterwerfen – oder im Träumen Zuflucht nehmen. Und so ist das ganze Leben ein nicht enden wollendes Hin und Her zwischen der rauen Wirklichkeit und der Vision von Freude.
Der zweite Satz drückt das schwermütige Gefühl aus, das mich am Abend überkommt, wenn ich müd von der Arbeit allein dasitze. Vieles jagt mir durch den Sinn – es ist traurig und auch wieder süß, sich in der Vergangenheit zu verlieren.
Der dritte Satz besteht aus launischen Arabesken, flüchtigen Bildern der Fantasie, wenn man etwas Wein getrunken hat. Sie haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, wirr und ohne Verbindung miteinander.
Der vierte Satz: Wenn man nicht genügend Grund hat, das Glück bei sich selbst zu finden, mische man sich unter die Menschen, sehe, was für eine gute Zeit sie haben, wie sie sich völlig freudigen Gefühlen überlassen. Ein Bild von volkstümlicher Feiertagsstimmung! Doch das unerbittliche Schicksal erscheint von neuem und erinnert uns an die Gegenwart. Aber den anderen ist man gleichgültig. O wie fröhlich sie sind! Man tadle sich selbst und sage sich, dass nicht alles in der Welt traurig ist. Man schöpfe Glück aus den Freuden anderer! So ist das Leben immerhin tragbar!“
Andreas Schmidt, 16. Januar 2017
klassik-begeistert.de