Fotos: T+T Fotografie / Toni Suter + Tanja Dorendorf
Ein geradezu atemberaubendes Gesamtkunstwerk erwartete uns im Opernhaus Zürich, diesem architektonischen Juwel des Neoklassizismus: Eine ebenso außergewöhnliche wie hoch intelligente, schon optisch und in der üppigen Ausstattung faszinierende Inszenierung (Barrie Kosky) dieses herrlichen Frühwerks von Puccini – das Dirigat von Marco Armiliato brachte die Sinnlichkeit der Musik und die Dramatik der Handlung zum Ausdruck wie selten zuvor und die beiden Protagonisten, Elena Stikhina als Manon und Saimir Pirgu als des Grieux boten einen unvergleichlichen sängerischen Höhenflug. Kurz – ein Gesamtkunstwerk von schier unübertrefflicher Perfektion. Unbestreitbar Weltniveau.
Manon Lescaut
Dramma lirico in vier Akten von Giacomo Puccini (1858–1924)
Libretto von Domenico Oliva, Luigi Illica u.a.
nach Abbé Prevosts «Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut»
Musikalische Leitung: Marco Armiliato
Inszenierung: Barrie Kosky
Bühnenbild: Rufus Didwiszus
Kostüme: Klaus Bruns
Licht: Franck Evin
Chor: Ernst Raffelsberger
Philharmonia Zürich
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich
Opernhaus Zürich, 22. März 2025
Von Dr. Charles E. Ritterband
Die „Manon“ tritt – abgesehen von den bemerkenswerten Inszenierungen in den großen Häusern wie namentlich Wien – hinter den vier berühmteren, so oft gespielten Werken „Bohème“ (1896), „Tosca“ (1900), „Butterfly“ (1904) und „Turandot“ (1926) zurück. „Manon“ war ein Frühwerk – während Puccinis vier populäre Opern gleichsam linear mit seiner großartigen Musik durchkomponiert sind, erhebt sich die Musik in „Manon“ immer wieder zu grandiosen, sinnlichen Höhen. „Manon“ ist, diese vielleicht nicht ganz professionelle Formulierung fiel mir während dieser Aufführung ein, „Puccini für Fortgeschrittene“.
Tatsächlich schreibt die Geigerin Maya Kadosh der „Philharmonia Zürich“ (des Orchesters dieser Aufführung): „Manon ist für mich die komplexeste und tiefgründigste der vier Puccini-Opern, die ich bisher bespielt habe“. Sie schreibt vom „unglaublichen Reichtum an Ideen und Melodien in diesem noch jungen Komponisten“. Die Instrumentierung seiner Partituren „ist wie ein Gemälde, für das er eine reiche Palette von Farben, zarten Harmonien, besonderen Spieltechniken und viele raffinierte Kniffe verwendet“.
Musikalisch überragend
Der Dirigent Marco Armiliato wird mit der Philharmonia Zürich diesem Meisterwerk des jungen, noch unverbraucht enthusiastischen Puccini in seiner ganzen Vielfalt und Sinnlichkeit bis in alle Einzelheiten gerecht. Aus dem Orchester steigt diese sinnliche Wärme schwallweise empor und füllt den relativ kleinen Raum des Zürcher Opernhauses wie der starke Duft exotischer Blumen. Er unterstützt das grandiose Sängerpaar Elena Stikhina als Manon und Saimir Pirgu als Des Grieux, trägt alle Sänger mit Präzision und Sicherheit durch das Geschehen mit seinen glänzenden Höhen und tiefen Abgründen.

Elena Stikhina ist gesanglich wie auch darstellerisch überragend: differenziert und sehr glaubhaft zeichnet sie die dramatische Entwicklung der aus einfachen Verhältnissen stammenden, völlig „unschuldigen“ und eigentlich für das Kloster bestimmten Manon, ihren „coup de foudre“ für den armen aber hingebungsvollen Des Grieux, über ihre sich rasch entwickelnde Lust an schönen, teuren Dingen, dem Geschmack für üppigen, leicht zu erwerbenden Luxus als von reichen Männern begehrte Kurtisane – verwöhnt, kapriziös, unberechenbar, korrupt, spöttisch – bis hin zur ihrem tragischen Ende, verdurstend in einer Wüstengegend beim damals französischen „Nouvelle Orléans“, aber dem Geliebten in reiner Liebe hingegeben.
Stikhina bringt die nahezu absolute Schönheit ihrer Stimme zum Tragen – Stimmstärke mit zugleich perfektem Timbre – welche sich im tragischen vierten „New Orleans“-Akt zu überwältigender Dramatik steigert: Es ist die durch Maria Callas so berühmt gewordene Sterbeszene-Arie „Sola, perduta, abbandonata“.
Als ebenbürtiger Partner bringt Saimiri Pirgu mit seiner variablen kraftvollen Stimme zu zärtlichen Schmelz und steigert sich dann im tragischen Ende zu ungebremster Leidenschaft. Von diesem Orchester unter dieser überragenden Leitung unterstützt – ein geradezu überwältigendes Erlebnis, ein einzigartiger musikalischer Höhenflug. Pirgu wurde in Zürich bereits als Pinkerton (Butterfly) und als Don José (Carmen) umjubelt: Er versteht es, diesen oft ins Klischeehafte abgleitenden Figuren charaktervolle Tiefe zu verleihen – so auch hier.
Starke Bildsprache
Der Australier Kosky besticht mit seiner durchdachten Inszenierung und einer höchst originellen Bildsprache. Großartig die Idee, den Aufstieg der Manon aus bescheidensten Verhältnissen über den Höhepunkt der Luxus-Kurtisane bis hin zu der Gefangenen hinter Gitter mit vier bis ins letzte Detail dargestellten Kutschen zu verkörpern: In der Eröffnungsszene in Amiens kommt das bescheidene Mädchen Manon im großen, historisch genau nachgebildeten Postwagen an, dann sitzt sie in einer noblen Karrosse bis sie schließlich auf dem Höhepunkt ihrer Kurtisanenlaufbahn in einer üppig von Barockstatuen nur so strotzenden goldenen Prunkkutsche (wie man sie übrigens genauso im „Museu Nacional dos Coches“, dem Kutschenmuseum Belem in Lissabon bewundern kann). Das Ende ist dann ein Gefangenentransport mit Gitterstäben.

Eine sehr bemerkenswerte Besonderheit bei der Parade dieser verschiedenen Kutschen sind die mächtigen schwarzen Pferde (hergestellt von Jan Vágner) – ich gebe gerne zu, dass ich mehrmals durch meinen leistungsstarken Operngucker schauen musste, bis ich feststellte, dass es sich nicht um echte Pferde sondern um verblüffend realistische Pferdekostüme handelte, in denen sich offenbar sehr kräftige und gut gebaute Komparsen verbargen und mit verblüffendem Einfühlungsvermögen (und beeindruckender Fitness) die Pferde mimten und die sicher nicht ganz leichten Kutschen über die Bühne des Zürcher Opernhauses zogen. Doch am Schluss gibt es keine Pferde mehr: Die vergitterten Gefängniswagen, die Schinderkarren, müssen die zur Deportation festgenommenen Frauen selber ziehen.

Auf dem Kutschbock saß jeweils der böse grinsende Tod – ein Gerippe oder dann ein Statist mit Totenmaske: Eine Vorahnung, Prophezeiung, wohin die Reise für Manon in ihrer goldenen Kutsche führend würde.
Doch es gab nicht nur diese wunderbaren Kutschen mit den beeindruckend naturalistischen Zugpferden, sondern vor allem auch den mit grotesken Masken (der Kostümbildner Klaus Bruns orientierte sich offenbar an den Bildern des symbolistisch-expressionistisch-surrealistischen belgischen Malers James Ensor) angetanen Chor – fratzenhaft, karikaturistisch.

Es ist die Gesellschaft, welche voll Häme, Schadenfreude und ohne auch nur einen Anflug von Mitleid den Aufstieg und dann den jähen Sturz der Kurtisanen mitverfolgt. Großartig dieser Chor (von Ernst Raffelsberger hervorragend betreut).

Dr. Charles E. Ritterband, 26. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Manon Lescaut: Elena Stikhina
Lescaut: Konstantin Shushakov
Il Cavaliere des Grieux: Saimir Pirgu
Geronte di Ravoir: Shavleg Armasi
Edmondo: Daniel Norman
Ludwig van Beethoven, Fidelio Opernhaus Zürich, 21. Januar 2025
Giacomo Puccini, Madama Butterfly Opernhaus Zürich, 29. Dezember 2024