Neumeiers Ballett Endstation Sehnsucht hat doch etwas von der Zeitlosigkeit seiner anderen Choreographien verloren

Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier  Hamburgische Staatsoper, 2. Mai 2025

Ana Torrequebrada (Stella), Matias Oberlin (Stanley Kowalski), Ida Praetorius (Blanche DuBois), Christopher Evans (Harold Mitchell), Jacopo Bellussi (Allan Gray) (Foto: RW)

Man musste schon genau hinschauen, um Louis Musins großartige Spagatsprünge und die mit hohem Drehspin gezeigten Tours en l’air im Bühnenhintergrund wahrnehmen zu können. Sein im wahrsten Sinne unter den anderen Tänzern herausragendes technisches Können und seine in anderen Balletten gezeigte intensive Darstellungskunst prädestinieren ihn geradezu zum Ersten Solisten.

Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier
nach Tennessee Williams

Musik: Sergej Prokofjew und Alfred Schnittke

Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept: John Neumeier

Pianist: Ondrej Rudčenko, und Musik vom Tonträger

Hamburg Ballett, Hamburgische Staatsoper, 2. Mai 202

von Dr. Ralf Wegner

John Neumeiers Endstation Sehnsucht zählt für mich nicht zu seinen stärksten Werken, anders als seine ebenfalls auf einem Stück von Tennessee Williams basierende Glasmenagerie. Im Gegensatz zu Blanche in der Endstation ist die sich ebenfalls in einer Traumwelt verlierende, aber dennoch ihr Schicksal ohne Harm oder Hass annehmende Hauptfigur Laura in der Glasmenagerie psychologisch tiefer empfunden und berührt die Seele, gerade weil ihr jeder mitleidheischende Effekt abgeht.

Dazu bleiben die großartig choreographierten Familienbeziehungen zur Mutter Amanda und zum Bruder Tom in bleibender Erinnerung, nicht zu vergessen Toms differenziert agierender Freund Jim. Darüber hinaus sind auch die Gruppenszenen in der Schuhfabrik, beim Schreibmaschinenkurs oder die Kinoszene unvergesslich.

Die Geschichte der zur Hysterie neigenden, in die psychische Krankheit abgleitenden Südstaatenschönheit Blanche DuBois und des machohaften Rednecks Stanley Kowalski wirkt dagegen eher stereotyp und irgendwie aus der Zeit gefallen.

Matias Oberlin und Ida Praetorius (Foto: RW)

Dennoch ist der zweite Teil seines Balletts fesselnde Ballettkunst

Dessen ungeachtet ist Neumeiers Endstation Sehnsucht im Vergleich mit narrativen Werken anderer Choreographen immer noch fesselnde Ballettkunst, zumindest der zweite, New Orleans überschriebene Teil.

Zwei unterschiedliche Besetzungen der beiden Hauptpartien wurden für diese Serie angekündigt: Anna Laudere und Ida Praetorius als Blanche sowie Matias Oberlin und Artem Prokopchuk als Stanley.

Wegen seines Bühnenunfalls während der Matthäuspassion konnte Prokopchuk die Partie des Vergewaltigers Stanley leider nicht übernehmen. Warum aber aus dem großen Hamburger Ensemble kein weiterer Solist als der bereits als Stanley besetzte Matias Oberlin den Part übernehmen konnte, ließe sich durchaus hinterfragen.

Das schmälert allerdings nicht die Leistung von Matias Oberlin als Stanley, der zusammen mit der ebenfalls herausragenden Ida Praetorius einen letzten grandiosen Pas de deux hinlegte. Pas de deux ist als Bezeichnung der Vergewaltigungsszene zwar inhaltlich ein Euphemismus, choreographisch tanzten und harmonierten beide Protagonisten aber perfekt, obwohl diese Paarung  nicht vorgesehen war.

Von den weiteren, weniger im Vordergrund stehenden Partien beeindruckte Christopher Evans als erst schüchterner und schließlich verzweifelter Verehrer Blanches, und Ana Torrequebrada nahm an Ende für ihre schöne Leistung als Stella, Blanches Schwester, drei aus dem Publikum zugeworfene Blumensträuße entgegen.

Ana Torrequedbrada und die ihr zugeworfenen Blumensträuße (Foto: RW)

Louis Musin zeigt im Hintergrund die Qualitäten eines Ersten Solisten

In der dritten Reihe der Auftretenden demonstrierten Ida Stempelmann und Louis Musin, was sie tänzerisch und technisch Großes auf die Bühne bringen können. Man musste schon genau hinschauen, um seine exzellenten Spagatsprünge und die mit hohem Drehspin gezeigten Tours en l’air im Bühnenhintergrund wahrzunehmen.

Musins im wahrsten Sinne unter den anderen Tänzern herausragendes technisches Können und seine in anderen Balletten gezeigte intensive Darstellungskunst prädestinieren ihn geradezu zum Ersten Solisten. Und da einige Stellen offenbar vakant werden, wird der Krug wohl nicht an ihm vorbeigehen.

Ida Stempelmann und Louis Musin (Foto: RW)

Stilistisch konnte bei diesem Ballett zeitweilig durchaus der Eindruck entstehen, dass die choreographische Herangehensweise nicht von John Neumeier stammt. Häufiges Slow Motion-Tanzen, eingefrorene Bilder und wie abgezirkelt, mitunter auch wie abgehackt wirkende Tanzfiguren ließen wenig Emotion aufkommen. Und im Ersten Teil ging von den Hochzeitstänzen kaum Fröhlichkeit aus und vor allem kein harmonisches Tanzlegato.

Vielleicht sollte das so sein, um die Zuschauer mehr auf die Blicke zu konzentrieren, die sich Blanches Bräutigam Allan Gray (Jacopo Bellussi) und dessen Freund Florian Pohl immer wieder zuwarfen. Mir schien das zu wenig subtil und etwas holzhammerartig in Szene gesetzt. Da sind wir heute doch schon etwas weiter, um eine erotische Spannung auch ohne das Offensichtliche zu erkennen.

Die alten Hasen zeigen, was Aura ist

Obwohl es kaum zu glauben ist, erreichte Neumeier für mich mit den alten Hasen des Hamburger Balletts im ersten Teil den intensivsten Eindruck. Ganz in schwarz gekleidet mit mumienhaften Ausdruck schlichen u.a. Laura Cazzaniga als Großmutter, Emilie Mazon als Margarete und Ivan Urban als General über die Bühne.

Das war kein Tanz, nur langsames Gehen, Fallen und Dahinscheiden, aber auf welch hohem Niveau. Darstellungskunst bezeichnet die Wirkung nicht richtig, es ist die Aura, die sich diese Tänzerinnen und Tänzer im Laufe der langen Arbeit unter und mit John Neumeier erworben haben.

Das Publikum dankte den Tänzerinnen und Tänzern am Ende mit zahlreichen Blumenwürfen und spendete reichlich Applaus.

Dr. Ralf Wegner, 3. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, Aufführung vom 24. September 2023

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Endstation Sehnsucht, Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams, Gastspiel des Tschechischen Nationalballett

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