Manon Lescaut, Giacomo Puccini
Wiener Staatsoper, 30. Juni 2016
Der Wiener Unfallchirurg Dr. Wolfgang Menth-Chiari, 53, bekommt im Donauspital viel Schlimmes zu sehen. Umso mehr erfreut sich der Arzt am Schönen, am Göttlichen. Schön und göttlich ist für ihn eine russische Sängerin mit österreichischem Pass: die Jahrhundert-Sopranistin Anna Jurjewna Netrebko. Sie gastierte zum Ende der Saison als Manon Lescaut in der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini an der Wiener Staatsoper. Und Dr. Wolfgang Menth-Chiari war hin und weg: „Ich sehe die Netrebko heute das 20. Mal live in meinem Leben. Ihre Bühnenpräsenz, ihre Ausstrahlung und ihre Stimme sind unvergleichlich. Ihre Sexiness bewegt mich.“
Mit seiner Begeisterung für Anna Netrebko steht der Unfallchirurg, der gemeinsam mit seinem Sohn Florian Chiari die restlos ausverkaufte Vorstellung besuchte, nicht allein. Auch Dr. Erhard Hartung, 73, war hingerissen: „Netrebkos Stimme ist großartig, sie geht direkt ins Herz und in die Seele“, befand der Anästhesist. „Schöne Musik“, philosophierte der Wiener, „ist der Schlüssel zur Seele – so wie schöne Frauen und Philosophen wie Hegel, Fichte, Kant und Schopenhauer.“ Der Förderer des Hauses am Ring gedachte an diesem letzten Abend einer an Höhepunkten ja nicht armen Saison – es gastierten etwa Jonas Kaufmann, Juan Diego Flórez, Plácido Domingo, Anja Harteros und Nina Stemme – auch seines Großvaters: „Ich habe mit meinem Opa am 8. November 1955 Ludwig van Beethovens ‚Fidelio‘ zur Wiedereröffnung der im Krieg zerstörten Wiener Staatsoper draußen live über Lautsprecher verfolgt. Opa sind die Tränen gekommen und ich fragte, warum er weine. Er sagte: ‚Wir spielen wieder.‘“
Auch das sonst nicht zimperliche österreichische Feuilleton überschlägt sich anlässlich der zwölften Wiener Partie der 44 Jahre alten Netrebko, ihrer ersten als Puccinis Manon. „Das Timbre der Netrebko ist mittlerweile so abgedunkelt, dass es fast wie ein Mezzo klingt, aber ihre strahlenden Spitzentöne sind ungebrochen“, schreibt das Neue Volksblatt. „Ihr Geheimnis besteht aber außer den gesanglichen Qualitäten vor allem in ihrer Präsenz – Anna Netrebko kommt auf die Bühne, und sie gehört ihr allein. Es gleicht einer Explosion, wenn sie ebenso ihre darstellerische wie gesangliche Energie zum Blühen bringt.“
Die russische Sopranistin entwickelt „ihre Gestaltung voll und ganz aus der Musik heraus“, schreibt die Presse. „Und das geht dem Publikum dann unter die Haut, weil es Lebenslust und Todeskampf der Manon nicht nur sehen, sondern auch hören kann: und zwar mit allen erdenklichen Zwischentönen.“
Auch Der Standard findet Netrebkos Stimme einzigartig: „Auf Basis einer dunklen vokalen Ausstrahlung setzt Netrebko lyrische Rufzeichen und platziert einzelne Töne – ob im Forte oder Pianissimo – mit Leichtigkeit gleichsam in Bereichen des Unvergesslichen. Timbrezauber, Sicherheit und Intensität sind fernab von Selbstzweck dann auch einfach Aspekte einer profunden Rollengestaltung.“
Und die Wiener Zeitung jubelt: „Es ist diese unglaubliche Balance zwischen absoluter Hingabe und ebenso absoluter Kontrolle, die Anna Netrebko als Sängerin auszeichnet. Wenn sie ihren immer dunkler, voller und dramatischer werdenden Sopran mitten in einer Phrase in ein zartes Piano zurücknimmt, um ihn wenig später wieder voll erstrahlen zu lassen, dann ist das nie reine Technik-Bravour. In jeder Lage bleibt Anna Netrebko auch emotionale Gestalterin – von zarten Lyrismen bis hin zur leidenschaftlichen Dramatik.“
Alles in allem war dieser Ausklang der Opernsaison eine Aufführung mit Auszeichnung – wäre da nicht der vollkommen neben sich stehende Tenor Marcello Giordani als Chevalier René Des Grieux gewesen. Der Italiener kann herausragend singen, keine Frage; er ist mehr als 200 Mal an der Metropolitan Opera in New York aufgetreten. Aber an diesem Abend ist er „übersungen“. Er hat merklich Probleme mit den hohen Tönen, die er oft leicht gequält herauspresst und immer wieder einen halben bis gar eineinhalb Töne zu tief ansingt. Seine Stimme kippt immer wieder weg. Dafür gibt es dann, neben viel Applaus, auch einzelne Buhrufe.
Manons herzzerreißenden Abschied vom Leben („Sola, perduta, abbandonata“) bietet Anna Netrebko mit ihrer nuancenreichen Stimme – ihre Stimme ist jetzt in den Tiefen dunkler als die der Mezzosopranistin Elīna Garanča, trotzdem strahlen ihre hohen Töne – vom Piano bis zum Fortissimo am überzeugendsten dar; besonders in den A-Cappella-Stellen bereitet sie den Zuhörern Wonnefreuden. „Ja, das war einer der selten magischen Momente, die man als Opernliebhaber erleben darf“, ergötzt sich der Kurier. „Wie die Sopranistin auf der Bühne ihr Leben aushaucht, mit welcher Dramatik, welcher Intensität und gleichzeitig Sensibilität sie das Verdursten in der Wüste gestaltet, ist phänomenal. Dafür wurde sie am Ende bejubelt, wie es einer großen Künstlerin gebührt.“
Kritik gibt es im Publikum indes an der modernen Inszenierung von Robert Carsen, in der aus unerfindlichen Gründen zehn Minuten lang eine silberne Limousine des General- und Produktionssponsors Lexus (Kaufpreis ab 119.540 Euro) auf der Bühne steht. Der kanadische Regisseur lässt Manon vor einem Luxus-Kaufhaus sterben (Ausstattung: Antony McDonald). „Es ist sicherlich sehr schwer, eine Sterbende in einer postmodernen Einkaufsstraße zu spielen, deren letzter Wunsch ein Schluck Wasser ist“, sagt die Wienerin Nina Fuchs, 56. „Die Rolle der Manon ist schwer zu verstehen: Sie erscheint als eine Shopping-Queen, für die ein reicher Mann wichtiger ist als das Gefühl der Liebe. Ihr Figur ist farblos im Vergleich zu starken Frauen wie Aida, Carmen, Violetta in ‚La Traviata‘ und Lady Macbeth.“
Auch Musikkritiker gehen mit Puccinis Plot nicht gerade zimperlich um: „’Manon Lescaut‘ leidet unter der sprunghaften, wenig zwingenden Handlungsführung, die sich ergab, weil die Librettisten peinlich darauf bedacht waren, alle Parallelen zu Massenet zu vermeiden“, sagt Rolf Fath. „Doch die stürmische Flut der Musik, ihre jugendlich ungestüme Kraft und die leidenschaftlichen Melodien haben Puccinis Oper den Sieg über Massenets atmosphärisch und inhaltlich subtilere und genauere Darstellung eingetragen.“
Das Wiener Staatsopernorchester legte unter der Leitung von Marco Armiliato eine tadellose Aufführung hin – allein einige Bläser schwächelten hin und wieder. Der Bariton David Pershall als Manons Bruder Lescaut sorgte mit seiner frischen Art für Belebung; der Bass Wolfgang Bankl war als Geronte de Ravoir stimmlich sehr präsent. Und nach der Netrebko ist vor der Netrebko: Der Wiener Unfallchirurg Dr. Wolfgang Menth-Chiari sieht schon im August der 21. Netrebko-Aufführung entgegen: Dann singt seine Anna die Manon Lescaut an der Seite ihres Gatten Yusif Eyvazov bei den Salzburger Festspielen.
Andreas Schmidt, 1. Juli 2016
klassik-begeistert.at
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Bild: Anna Netrebko nach der Aufführung von „Manon Lescaut“ in der Wiener Staatsoper.
Sehr geschätzter Herr Schmidt,
meine Schwester hat diesen Bericht im Internet gefunden und mir heute zugesandt. Ihre Schreibstil gefällt mir, da er leicht zu lesen ist, Erzähltes treffend wieder gibt und genau über das Thema informiert. Dazu meine Gratulation verbunden mit der Hoffnung, dass Sie in Bälde in die Fußstapfen von Herrn Wilhelm Sinkovicz (Die Presse) und Frau Eleonore Büning (FAZ) treten.
Mit besten Dank und herzlichen Grüßen
Erhard Hartung
wow, awesome!