Jerusalem Quartet © Nekame Klasohm Hires
Im Beethoven-Haus wird das vierte der fünf Konzerte des Schostakowitsch-Zyklus mit dem Jerusalem Quartet zur veritablen Sternstunde. Das hat mehrere Gründe.
Bonn, Beethoven-Haus, 21. September 2025
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Streichquartette Nr. 3 F-Dur op. 73; Nr. 13 b-Moll op. 138; Nr. 14 Fis-Dur op. 142
Jerusalem Quartet:
Alexander Pavlovsky, Violine
Sergei Bresler, Violine
Ori Kam, Viola
Kyril Zlotnikov, Violoncello
von Brian Cooper, Bonn
Ein grotesker Walzer in sehr gemessenem Tempo. Dann leise Schritte. Bedrohlich. Beklemmend. Zwölf abgehackte pianissimo-Akkorde bilden den Beginn eines chromatisch mehr oder minder abwärts führenden Seitenthemas, gefolgt von zwei Seufzern. Immer wieder. Die Atmosphäre im Saal ist düster. Hier geschieht Außergewöhnliches.
Dmitri Schostakowitsch. Streichquartett Nr. 3. F-Dur. Opus 73. Was als so nüchterne wie gängige Bezeichnung daherkommt, klingt im zweiten Satz – und nicht nur dort – genau wie jenes „Klima der Angst“, das Michael Struck-Schloen als Überschrift zu seinem Text über dieses Werk für die Gesamteinspielung des Mandelring-Quartetts gewählt hat:
„Der Beginn des zweiten Satzes wirkt (…) wie der Nachhall der achten Sinfonie mit der in Tönen ausgemalten ‚Kampfmaschine‘ des Krieges samt Granateneinschlägen. Doch dem grellen Beginn folgt eine nächtlich wispernde Serenade mit kläglichen Pierrot-Seufzern.“
Diese „wispernde Serenade“ ist nur eine von sehr vielen bemerkenswerten – und bemerkenswert gespielten – Stellen. Dabei beginnt das Stück heiter, vermeintlich heiter, wie so oft bei DSCH, verspielt, schräg und, ja, ziemlich grotesk auch im Kopfsatz. Dissonanzen und schrille Stellen sind verkraftbar, Humor und Absurdität dominieren. Ein typischer Schostakowitsch eben.
Das Jerusalem Quartet spielt die fünf Sätze dieses dritten Quartetts, das etwa eine halbe Stunde dauert, mit einer Intensität, wie ich sie in bald vier Jahrzehnten Streichquartett-Hörens selten bis nie erlebt habe. Es war eine Darbietung, wie man sie niemals erwarten kann und niemals erwarten darf, da viele Faktoren zusammentreffen müssen.

Zum einen ist da natürlich eine Formation von Weltrang, die so spielt, als ginge es um Leben und Tod – und dieser häufig bemühte Ausdruck ist bei Schostakowitsch gar nicht mal fehl am Platz. Die Angst, von Schergen Stalins eines Tages abgeholt zu werden, durchzieht sein sinfonisches wie kammermusikalisches Gesamtwerk. Wie oft schimmert in den Quartetten die Verzweiflung durch, elegisches Klagen, aber auch Spott, Ironie und ein ausgeprägter Sinn fürs Groteske?
Zum anderen ist da ein Spielort, an dem man so intensiv hören und dem Ensemble so nah sein kann wie allenfalls nur noch in einem großen Wohnzimmer. Der Kammermusiksaal im Bonner Beethoven-Haus ist der beste Ort weit und breit, den man sich für das intensive Hören von Streichquartetten wünschen kann. 199 Leute fasst der Saal. (Ab 200 braucht es einen Feuerwehrmann, hat man mir mal gesagt.) Erstaunlicherweise gibt es einige wenige freie Plätze.
Und zum dritten ist da noch das Publikum. Es ist an diesem Nachmittag in der ersten Hälfte äußerst still. Man könnte nicht nur die berühmte Stecknadel fallen hören – sie fällt nicht –, sondern spürt sogar eine Art kollektiven Atmens, Luft-Anhaltens, Seufzens. Nach dem Verklingen der letzten Töne herrscht eine so wundervolle Stille, dass man die Ergriffenheit aller Anderen, dezidiert auch der Ausführenden, zu fühlen meint. Ich zähle drei Kinder unter zehn, die den Altersdurchschnitt im Saal erheblich senken. Sie geben das gesamte Konzert über keinen Mucks von sich. Und das bei einem höchst anspruchsvollen und schwierigen Programm. Chapeau.
„Was erleben wir da gerade?“ frage ich meinen Konzertfreund Albert in der Pause. Wir schweigen, schütteln den Kopf, können es nicht fassen. Die Augen sind feucht.
Zuhause stelle ich fest, dass das Dritte Streichquartett eine besondere Rolle in der Karriere dieses Quartetts einnimmt: Es war auf der vor etwa 25 Jahren eingespielten Debüt-CD, damals noch mit dem Bratschisten Amihai Grosz, der 2010 Solobratscher der Berliner Philharmoniker wurde.
Es konnte nicht genauso weitergehen. Dafür war vielleicht auch das restliche Programm zu sperrig. Und dennoch war auch die zweite Hälfte phänomenal. Das 13. Quartett mit seinen ausladenden Bratschensoli ist ein eigenartiges Werk. Da wird schon mal mit Bogen oder Hand an den Korpus des Instruments geklopft – überhaupt, das Klopfen bei Schostakowitsch, es kommt auch hier vor, ist diesmal wörtlich zu nehmen. Zwischendrin gibt es eine leicht an Jazz gemahnende Stelle, aber ansonsten geht es ziemlich dissonant und zerklüftet zu. Ori Kams Spiel besticht durch einen vollen, dunklen, geradezu rauchigen Ton.
Das 14. Quartett schließlich, mit dem dieser außergewöhnliche Nachmittag endete, konnte wegen eines einzelnen, mies getimten Husters nicht mit derselben Ruhe ausklingen wie die beiden Stücke zuvor. Schade. Sonst wär’s fast perfekt gewesen. Die Soli Kyril Zlotnikovs – Widmungsträger war der Cellist des Beethoven-Quartetts, der Bratschist derselben Formation war Widmungsträger des 13. – waren sonor bis schalkhaft, Akkordsequenzen erinnerten an Bach-Suiten.
Die vier Musiker bekommen je eine Sonnenblume vom Team des Beethovenfests geschenkt. Eines der drei oben erwähnten Kinder bekommt eine Sonnenblume vom Bratschisten Ori Kam persönlich in Reihe 2 gebracht. Eine tolle Geste. So schnell wird der Junge dieses Konzert nicht vergessen.
Dieser etwas größere Junge, der das hier schreibt, allerdings auch nicht.
Dr. Brian Cooper, 22. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at