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ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln, Philharmonie Köln, 10. Mai 2018
Georg Nigl, Bariton
Tomas Möwes , 1. Sprecher
Jakob Diehl, 2. Sprecher
Chor des Bach-Vereins Köln
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Michael Wendeberg, Dirigent
Johann Sebastian Bach
„Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ BWV 56 (1726)
Kantate für Bass, Chor und Orchester zum 19. Sonntag nach Trinitatis
Gustav Mahler
Adagio aus: Sinfonie Nr. 10 Fis-Dur (1910, unvollendet)
Bernd Alois Zimmermann
Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne (1970) Ekklesiastische Aktion für zwei Sprecher, Bass und Orchester
von Daniel Janz
Ein Erlebnis voller Widersprüche und auseinandergehender Meinungen erlebten die Besucher am Donnerstagabend in der Kölner Philharmonie. Zu Gast beim ACHT-Brücken-Festival – der kölner Konzertreihe zu Neuer Musik – spielte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Werke aus den unterschiedlichsten Epochen. Dabei zeigte sich, dass Musik und Kunst nicht nur stilistisch vielfältig ausfallen, sondern auch die Menschen auf höchst unterschiedliche Weise bewegen können. Denn dieses Konzert hätte beinahe zu einem Skandal geführt.
Der erste Komponist des Abends ist Johann Sebastian Bach. Dessen 1726 ursprünglich für Sopran komponierte Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ setzt sich mit Vergänglichkeit und Tod auseinander. Damit wird bereits ein Themenschwerpunkt festgelegt, dem auch die anderen Werke folgen werden.
Im Mittelpunkt steht heute jedoch keine Frauenstimme, sondern mit dem 46 Jahre alten Österreicher Georg Nigl ein Bariton erster Klasse. 2015 wurde er gar in der Zeitschrift „Opernwelt“ zum Sänger des Jahres gekürt.
Dieses Werk Bachs setzt nicht die große Instrumentenanzahl voraus, die noch für die späteren Werke benötigt wird. Dafür aber verlangt Bachs Musik den beteiligten Künstlern reine Perfektion ab. Man kann die unter dem 44-jährigen Pianisten und Dirigenten Michael Wendeberg spielenden Musiker gerade deshalb bereits für ihre Leistung adeln. Denn was sie vollbringen ist Weltklasse.
Die erste Arie gewinnt insbesondere durch die klare Aussprache Nigls und dessen inbrünstige Leidenschaft an Schönheit. Orchester und Sänger begleiten sich gegenseitig durch kunstvolle Koloraturen und höchst schwierige Harmonieverläufe. Die Rezitative sind kammermusikalisch begleitet. Hier glänzen vor allem Clara Dent-Bogányi an der ersten Oboe sowie das erste Cello mit Fagott und der Basso Continuo. Und auch der 1974 in Ebingen geborene Dirigent unterstreicht am Cembalo seine herausragende Klasse. Dieses Werk ist besonders deshalb so heikel für ihn, weil das Instrument seine volle Aufmerksamkeit fordert und nur wenig Zeit zum Dirigieren bleibt.
Die Kantate schließt mit einem fünfminütigen Choral. Der hierfür anwesende Chor des Bach-Vereins Köln konnte schon vor kurzem bei der Aufführung von Benjamin Brittens War-Requiem überzeugen. Auch heute beeindruckt der Chor wieder in einer kurzen, aber sehr ergreifend vorgetragenen Schlusspassage.
Der erste und einzige vollendete Satz von Mahlers zehnter Sinfonie steht dazu nicht nur kompositorisch im Kontrast. Zum ersten Mal an diesem Abend kann das komplette Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester die Bühne betreten. Auch Michael Wendeberg, der dieses Werk auswendig dirigiert, kann sich nunmehr auf seine Rolle am Pult fokussieren. Diese schwere Komposition, die Mahler 1910 nur einige Monate vor seinem Tod begonnen hatte, verlangt ebenfalls tiefste Hingabe.
Dies lassen die Künstler das Publikum spüren. Wendeberg kitzelt aus seinen Musikern pure Dramatik heraus. Das erste Horn überstrahlt noch einmal alle Beteiligten durch großartiges Volumen und glasklare Intonation. Zum Höhepunkt mischen sich alle Stimmen zu einem erschütternden, wenn auch etwas zaghaft vorgetragenen Ausbruch. Die einzelnen Themen, die über den Verlauf des gut halbstündigen Satzes immer mehr verfremdet werden, münden hier schließlich in einem Cluster, der anschließend abebbt und in verklärende Stille überleitet.
Zu diesem Zeitpunkt zeichnet sich eigentlich der Auftakt zu einem perfekten Abend ab. Wäre da nicht dieses letzte Stück: „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ von Bernd Alois Zimmermann, einem Komponisten der Neuen Musik. Bekannt für seinen pluralistischen Kompositions- und Collagenstil ist das, was er der Nachwelt hinterlassen hat, eine sehr eigene Form von Kunst.
Sein Werk – nur 3 Tage vor seinem eigenen Selbstmord vollendet – setzt ausschließlich auf den in ihm verarbeiteten Text. Das Orchester – obwohl immens besetzt – wird stattdessen auf bloße Effekthascherei reduziert. Eine Betrachtung unter musikästhetischen Aspekten müsste tatsächlich vernichtend ausfallen. Was Zimmermann hinterlassen hat, hat mit Musik wenig zu tun. Eher mit Geräuschkunst, teilweise sogar mit Krach, der ohne Subventionen wohl kaum einen Weg in die Konzertsäle der Welt finden würde.
Kammersänger Tomas Möwes und der Schauspieler Jakob Diehl erzählen in diesem Werk der Sprachkunst abwechselnd die beängstigende Geschichte „Der Großinquisitor“ aus dem Roman „Die Brüder Karamasow (von Fjodor Michailowitsch Dostojewski 1821 – 1881). Durchsetzt ist diese Geschichte mit gesanglich vertonten Bibel-Versen aus dem Buch der Prediger Salomo nach Martin Luther. Und auch hier übernimmt Georg Nigl erneut den Gesangspart.
Und was diese drei leisten, ist atemberaubend. Georg Nigl, der schon Bach mit voller Inbrunst intoniert hat, erhöht seinen Ausdruck noch einmal mit ganzem Körpereinsatz. Er singt stellenweise so engagiert, als würde es um sein eigenes Leben gehen.
Tomas Möwes kann mit Ernsthaftigkeit und Würde überzeugen. Seine Vortragsweise gleicht beinahe der eines Predigers. Insbesondere die Bibelverse, die er einleitet und Nigl noch einmal gesanglich aufgreift, hinterlassen Eindruck.
Und Jakob Diehl verleiht der Geschichte um den Großinquisitor besondere Lebendigkeit. Zeitweise muss er sich regelrecht die Seele aus dem Leib schreien, um gegen den enorm lauten Instrumentenapparat anzukommen.
Genau in der Instrumentation erschöpft sich dieses Werk aber auch schnell. Seien es die Posaunen aus der Ferne, das immense Repertoire an Schlagzeug, die E-Gitarre oder sogar Papier, das auf der Bühne für Klangeffekte zerrissen wird. All dies wirkt, als wäre es dem Komponisten nur noch darum gegangen, noch verstörender, noch verzerrter irgendein Klanggemisch zu Gehör zu bringen. Selbst der Gesang, der gegen Schluss nur noch in theatralisches Gejammer übergeht, übertritt irgendwann die Grenze zur Lächerlichkeit.
Dass dieses Werk nicht auseinanderfällt, ist ausschließlich der übermenschlichen Leistung der drei Stimmkünstler, sowie dem überragenden Dirigat von Wendeberg zu verdanken. Selbst in den Momenten, in denen sie nur noch gegeneinander anschreien, um das Orchester-Brimborium irgendwie zu durchdringen, entsteht nicht der Eindruck, als würde ihnen die Konzentration entgleiten.
Doch das Publikum zeigt sich in Anbetracht dieser Kunst nur teilweise überzeugt. Als das Werk perfekt getimed endet, ist nicht etwa ein „Bravo“ die erste Reaktion, sondern es wird laut gebuht. In der Folge kristallisieren sich schnell zwei Lager aus dem Publikum heraus – Das eine, das ekstatisch und verdient die Leistung der Künstler auf der Bühne mit Standing Ovations feiert. Und das andere, das mit Buh-Rufen und vereinzelten Pfiffen dagegen anzuhalten versucht. Es überwiegt der Eindruck, als könnten vor allem diejenigen das Werk wertschätzen, denen es bereits bekannt ist.
Ärgerlich ist das besonders für die drei Solisten, die in ihrer Performance über ihre Grenzen hinausgegangen sind. Auch wenn diese Form von Kunst ganz klar Geschmackssache ist – Alleine für ihren Einsatz haben Musiker und Solisten bereits großen Respekt verdient.
Daniel Janz, 12.05.2018
für klassik-begeistert.de
Danke für diesen leidenschaftlichen Artikel, der die Stimmung des Konzertes und die Leistung der Beteiligten anschaulich widerspiegelt.
Marie Babette Nierenz