Wenn eine Regie ein Kunstwerk fast zerstört

Alban Berg, Lulu  Wiener Festwochen 2023, Museumsquartier Halle E, 6. Juni 2023

Foto: Lulu 2023 © Monika Rittershaus

Wiener Festwochen 2023

Museumsquartier Halle E, 6. Juni 2023 

Alban Berg  Lulu
Oper nach den Tragödien Erdgeist und die Büchse der Pandora von Frank Wedekind

Inklusive der Sätze Variationen und Adagio aus der Lulu-Suite

Regie, Choreographie, Kostüm: Marlene Monteiro Freitas

Mit Vera-Lotte Boecker, Bo Skovhus, Edgaras Montvidas, Anne Sofie von Otter, Kurt Rydl u.a.

ORF Radio Symphonieorchester Wien
Dirigent: Maxime Pascal

von Herbert Hiess

Manchmal sind doch die Erinnerungen inklusive der Archive die allergrößten Feinde manch aktueller Anlässe. Es war genau zu den Wiener Festwochen 2010, wo das Team Peter Stein als Regisseur und Daniele Gatti als genialer Dirigent eine denkwürdige Aufführung des Wedekind-Sujets zum Alban Berg-Jahr zelebrierten (evolver.at || Lulu). Genauso unvergesslich waren die Aufführungen unter Lorin Maazel im Jahre 1983.

Nun, 2023 ist zwar kein Alban Berg-Jahr; aber man brachte trotzdem dieses geniale Werk wieder auf die Bühne. Und dieses Mal wegen des Umbaus des Stammhauses „Theater an der Wien“ eben im Ausweichhaus Halle E im Museumsquartier.

Und hier nicht in der von Friedrich Cerha vollendeten Fassung, sondern in dem von Alban Berg hinterlassenen zweiaktigen Fragment. Verantwortlich für die Szenerie war die Tänzerin und Choreographin Marlene Monteiro Freitas. Mag sein, dass die Dame eine begnadete Ballett-Gestalterin und Choreographin ist; als Regisseuse hat sie hier mehr oder minder komplett versagt.

Sie schaffte es sogar, aus dieser Wedekind’schen Tragödie manchmal eine Parodie, eine Persiflage zu gestalten. Die Figuren waren gleichförmig gewandet; zum Beispiel trugen alle (inklusive Dirigent) blaue Sportschuhe – wenn sie nicht barfuß waren.

Die „Performer“ (so nennt man das jetzt) waren zwar phantastisch einstudiert, lenkten aber meistens total von der Szenerie ab und sie trugen absolut nichts zur Handlung bei. Es bewegten sich alle in rechteckigen und zackigen Bewegungen und oftmals wechselten sie sinnloserweise die Position.

Lulu 2023 © Monika Rittershaus

Insgesamt war regiemäßig diese Produktion relativ verstörend; dabei wären vielleicht interessante Ansätze dabei gewesen. So waren Orchester und Dirigent auf einem Podium oberhalb der Bühne hinten platziert, während die Sänger im Vordergrund zu sehen waren.

Das war aber bei dieser aktuellen Regie auch schon egal; irgendwie nervte die Szenerie zunehmend.

Lulu 2023 ©  Monika Rittershaus
Lulu 2023 © Monika Rittershaus

 

 

 

 

 

 

Absolut großartig dafür die Sänger – allen voran Vera-Lotte Boecker als Kindfrau Lulu. Diese Partie ist ja auf wienerisch gesagt ein „Beuschelreißer“ (Anmerkung: Beuschel sind die Lungen von Rind, Schwein usw.) und mit allen erdenklichen gesanglichen Schwierigkeiten gewürzt. Bei Frau Boecker glaubt man, dass das offenbar die einfachste Sache der Welt sei. Jede abnorme Höhe mit enormer Leichtigkeit gemeistert, spürt man bei ihr in jedem Wort, in jeder Note und mit jeder Geste den totalen Ausdruck. Trotz der merkwürdigen Regie nimmt man ihr diese Kindfrau ohne Weiteres ab.

Auch die anderen Partien waren hervorragendst besetzt; Kurt Rydl als Schigolch (diese Partie wird offenbar immer mit älteren grandiosen Bässen besetzt), Bo Skovhus als Dr. Schön, der Spitzentenor Edgaras Montvidas als Alwa und Anne Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz.

Bewundernswert, wie diese Künstler trotz der Nicht-Regie eine so gute Aufführung gestalten konnten.

Nicht zuletzt hat das ORF-Orchester wieder eindrucksvoll bewiesen, dass es eine Schande wäre, dieses Ensemble zu eliminieren. Diese Musiker sind ein wertvoller Bestandteil der österreichischen Musikszene und haben es zu Recht verdient, dass man dieses Orchester erhält.

Nicht zuletzt Dank des hervorragenden Dirigenten Maxime Pascal retteten die Musiker diese szenisch unbrauchbare Aufführung. Fehlte vielleicht der Schliff zum musikalischen Olymp wie bei Lorin Maazel oder Daniele Gatti; trotzdem war musikalisch diese Aufführung wie aus einem Guss.

Hoffentlich muss man nicht wieder 13 Jahre warten, um diese großartige Oper auf der Bühne zu erleben – und dann wenigstens wieder in einer vernünftigen Regie!

Herbert Hiess, 7. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Alban Berg, Lulu, Staatsoper Hamburg, 5. Februar 2020

Alban Berg, Lulu, Oper Leipzig

Sommereggers Klassikwelt 42: Evelyn Lear, meine erste Lulu

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert