„Der Kreidekreis“ öffnet das Tor in die Weite des Musikkosmos

Alexander Zemlinsky, Der Kreidekreis  Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf, 27. Dezember 2024

Der Kreidekreis © Sandra Then

In unserer Landeshauptstadt Düsseldorf weiß man sich zu kleiden. Im Märchengewand kommt so auch die elende Spirale aus Ungerechtigkeit und Gewalt in der Oper am Rhein daher. Schnell entpuppt sich das Musiktheater als hochpolitisch. Zemlinskys Kreidekreis ist eine moderne Oper, die unterschiedlichste Musikrichtungen vereint. Ein tolles Erlebnis für die Ohren und eine klare Empfehlung für alle Operneinsteiger.


Alexander Zemlinsky

Der Kreidekreis

Libretto vom Komponisten nach dem gleichnamigen Schauspiel von Klabund

Orchester: Düsseldorfer Symphoniker
Musikalische Leitung: Hendrik Vestmann

Inszenierung: David Bösch
Bühne und Video: Patrick Bannwart

Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf, 27. Dezember 2024

von Petra und Dr. Guido Grass

Die Musik Alexander Zemlinskys ist viel zu selten auf unseren Konzertbühnen zu hören. Gelegentlich schwimmt „Die Seejungfrau“ durch den Konzertsaal, und allenfalls die „Lyrische Sinfonie“ findet sich noch in den Programmen. Vor zwei Jahren brachte die Oper Köln den Einakter „Der Zwerg“ überzeugend auf die Bühne, nun dürfen wir in Düsseldorf „Der Kreidekreis“ wiederentdecken.

Zemlinskys kompositorisches Schaffen wird gelegentlich Eklektizismus vorgeworfen. Und in der Tat changiert „Der Kreidekreis“ durch nahezu alle Musik-Genres. Zemlinsky kopiert jedoch nicht, er überschreitet künstliche Grenzen und bewegt sich frei im vielfältigen musikalischen Kosmos. Er amalgamiert in seiner Oper Jazz-Revue, italienische Opernarien à la Puccini und sich auflösende Harmonik mit fernöstlichen Klängen und schwelgerischer Spätromantik. Und John Williams Filmmusik ist auch schon da. Er sucht und findet den richtigen Ausdruck. Alles dient der Handlung, verdeutlicht die Emotionen und Konflikte.

Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Patrick Bannwart gleiten wie Fische im Wasser durch den ungewöhnlich abwechslungsreichen Fluss der Musikstile.

„Der Kreidekreis“ basiert auf einem Singspiel des 14. Jahrhunderts von Jung Chang. Zemlinsky verwendet die zeitlosen Motive. Am Beispiel eines Frauenschicksals zeigt sich der Kreislauf von Habgier, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Gewalt. Haitang, selbst Opfer, besiegt das System durch konsequenten Gewaltverzicht.

Der Kreidekreis © Sandra Then
Die Freiheit im goldenen Käfig

Haitang, äußerlich eine Gefangene, innerlich völlig frei in ihren Entscheidungen, gelingt es, den ewigen Kreislauf zu durchbrechen.

Ihre friedvolle Art lässt den brutalen Steuereintreiber zum liebevollen Vater werden. Sie besänftigt ihren zornigen Bruder und bewahrt ihn davor, einen Mord zu begehen. Sie erkennt die Wahrheit vor Gericht, beschützt ihr Kind und bringt sogar den allmächtigen Kaiser dazu, seine Fehler zu bekennen.

Analog zur Handlung öffnet auch Zemlinsky musikalisch den engen Kreis traditioneller Opern. Die Sprache nimmt einen wichtigen Raum ein. Den stark typisierten Personen wird jeweils ein musikalisches Motiv zugeordnet. Klangmalerei unterstützt die Handlung.

Gesungen wird durchweg auf exzellentem Niveau, bis in die kleinen Nebenrollen hinein. Joachim Goltz leuchtet mit seinem dunklen Bariton die Rolle des Ma in allen Facetten aus. Anfänglich als kaltblütiger, lüsterner Geldeintreiber vollzieht er auch stimmlich unter dem Einfluss seiner dann zweiten Ehefrau Haitang einen Wandel. Heller und freundlicher wird er nicht nur im Spiel, sondern auch in seiner Stimme.

In der reinen Sprechrolle überzeugt Werner Wölbern vollends. Mit seiner leicht rauchigen und dennoch klar verständlichen, vollen Stimme bringt er sehr authentisch den korrupten Richter auf die Bühne.

Der Kreidekreis © Sandra Then

Aus Sarah Ferede strahlt mit jeder Pore die falsche Schlange der intriganten Gattin ersten Ranges Yü-Pei aus. Verführerisch als Femme fatale umgarnt ihr Mezzosopran den Gerichtsdiener. Doch auch ihr Leid als Opfer der rücksichtslosen Männerwelt bringt sie glaubwürdig über die Rampe.

Lavinia Dames liegt das Publikum zu Füßen

Der Kranz gehört heute Abend jedoch zweifelsohne Lavinia Dames als Tschang Haitang. Es ist eine enorm herausfordernde Partie, gesanglich und schauspielerisch. Ihr lyrischer Sopran lässt Herzen schmelzen. Doch auch dramatische Ausbrüche der Verzweiflung scheut ihre Stimme nicht. Dass sie dies durch ergreifendes Spiel zu untermalen versteht, ist dann nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Wir sind sicher, dass ihre Karriere noch weiter an Fahrt aufnehmen wird. Das Düsseldorfer Publikum liegt ihr heute Abend zu Füßen.

Der Kreidekreis © Sandra Then

Die Inszenierung ist stringent aufgebaut. Auf den Aktvorhang projizierte Kreideskizzen führen einfach und deshalb genial in das jeweilige Geschehen ein. Die Videoarbeit unterstützt dezent und gleichzeitig ausdrucksstark das Schauspiel.

Eine solche Oper haben wir noch nicht gehört. Sie lässt sich in keine Schublade stecken. Zemlinsky hat den Gesang textnah komponiert. Wenn wie hier von einem hervorragenden Sängerensemble gesungen wird, werden auch Opernneulinge schnell in das Geschehen hineinfinden. Was sich in der Synopse wie ein Märchen liest, ist jedoch keine Bollywood-Romanze, sondern eine bittere Gesellschaftskritik. Am Vorabend zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin geschrieben, ist die Oper heute erschreckend aktuell. Ein Muss für alle Opernliebhaber und die, die es werden wollen!

Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 29. Dezember 2024
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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