Am Hofe der Anna Bolena in der Deutschen Oper Berlin feiert der klassische Belcanto Urständ

Anna Bolena, Tragedia lirica in zwei Akten von Gaetano Donizetti   Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 15. Dezember 2023

Fotos © Bettina Stöß

Anna Bolena
Tragedia lirica in zwei Akten von Gaetano Donizetti

Musikalische Leitung   Enrique Mazzola
Inszenierung   David Alden
Ausstattung   Gideon Davey
Lichtdesign   Elfried Roller

Anna Bolena     Federica Lombardi
Enrico VIII.     Riccardo Fassi
Giovanna Seymour     Vasilisa Berzhanskaya
Lord Rochefort     Padraic Rowan
Lord Riccardo Percy     René Barbera
Smeton     Karis Tucker
Sir Hervey    Chance Jonas-O’Toole
Kleine Elisabeth    Mirabelle Heymann

Orchester, Chor und Statisterie der Deutschen Oper Berlin                      

Premiere an der Deutschen Oper Berlin am 15. Dezember 2023

 von Sandra Grohmann

Gegeben wird das Spektakel vom König, der seine Frau der Untreue anklagt und hinrichten lässt, um selbst seine neue Geliebte heiraten zu können. Nicht auf die Bretter kommt hingegen – da in Donizettis Oper Anna Bolena nicht angelegt – die historische Dimension der Ereignisse: Anne Boleyn als Politikerin, als Spielball ihres Vaters und ihres Bruders, als Kristallisationspunkt für die Entstehung der anglikanischen Kirche, als polarisierende Dame der Gesellschaft. All dies galt, anders als ein purer Sex-and-Crime-Stoff, jedenfalls zur Entstehungszeit des Stücks um 1830, nicht als operntauglich.

Für die Inszenierung genügt diesmal ein Absatz, eigentlich ein Satz: Sie stört kaum. David Alden hat seine Anna Bolena in einen faschistoid anmutenden Palast gesperrt, der wohl die Tyrannei Henry VIII. – der hier Enrico heißt – illustrieren soll und Teil einer Ästhetik des Bösen bildet, die in ihrer Gefälligkeit nach dem 7. Oktober 2023 vor allem deshalb Unwohlsein verursacht, weil die Realität solcherart Bühnen-Bilder längst in grauenhafter Weise überholt hat.

Kostüme, die sorgsam zerrissen und mit roter Farbe angepinselt sind und so die Körper gefolterter Figuren kleiden, gehören nicht mehr in diese Zeit. Auch überdimensionierte Skelette, Totenkopf-Masken und das Schwert des Henkers wirken bestenfalls altmodisch. Das vom Regisseur angekündigte Augenzwinkern konnte und, zugegeben, wollte ich nicht entdecken. Es wäre erst recht unpassend gewesen.

Die Kostüme an sich sind beeindruckend vielfältig und gut geschneidert, mäandern sich jedoch eklektizistisch durch die Jahrhunderte und vermitteln dadurch den Eindruck, man befinde sich im Teleshopping für den nächsten Karneval. Laut Alden ist der Grund für diese bestenfalls als Zeitlosigkeit zu bezeichnende Beliebigkeit, dass die Story sich auch heute so am englischen Hof hätte abspielen können.

Tja. Und ich dachte, sie hätten auch auf der Insel die Todesstrafe längst abgeschafft – wieder was dazugelernt. Vielleicht wird bloß auf die Idee angespielt, dass die Königsfamilie ihrerzeit Prinzessin Diana durch Intrigen in den Tod getrieben habe. Der Regisseur zitiert im Interview allerdings nicht die Tragödie um jene Herzensprinzessin, sondern die Beziehung zwischen Meghan und Harry. Vielleicht lese ich zu wenig Yellow Press, um da noch mitzukommen. Zu sehen ist von solchen Parallelen auf der Bühne allerdings nichts – allein eine Kostüm-Zeitreise genügt dafür nicht.

Die Personenregie war insgesamt an Einfallslosigkeit kaum zu unterbieten, andererseits: Das Regietheater hat es auf der Opernbühne ja auch schon etliche Male wahrlich übertrieben. Wer also nach längerer Zeit mal wieder typische Operngestik und -Mimik sehen möchte (flehende und ringende Hände, rollende Augen, sich senkende Knie, am Boden liegende Körper, sich an der Kulisse abstützende Sänger, Chor an der Wand, Chor auf Stühlen vor der Wand usw.) oder wer das klassische Rampensingen vermisst hat, der wird hier fündig und nur selten von stärkeren Bildern gestört – die dann indes prompt etwas aufgesetzt wirken wie etwa die Szene, in der Enrico, auf dem Weg zur Jagd, in Sado-Maso-Manier drei in Lederhunde-Kostümen steckende Menschen erst hinter sich herzieht und später kaum zu halten vermag.

Ein absonderlicher Einfall, immerhin, wenn auch keine sonderlich subtile Metapher. Dass weder er noch die übrigen Figuren die von Regisseur Alden in Bezug genommene Vielschichtigkeit zeigen, ist schade. Es sind eher Fratzen und Masken, die sich hier zeigen.

Einzig die stumme, von der Regie hinzugefügte Figur der kleinen Elisabeth – Annas und Enricos Tochter, die nach der Vorstellung des historischen Vaters lieber ein Sohn hätte sein sollen, was in der Oper aber ebenfalls nicht thematisiert wird –, diese kleine Figur, mit der der Abend eröffnet, vermag immerhin einen anderen Blick und etwas Menschlichkeit in die Szenerie zu bringen. Die spätere Elizabeth I. von England war nach den historischen Daten zwar erst um die drei Jahre alt, als ihre Mutter exekutiert wurde, wird aber unabhängig davon traumatisiert zurückgeblieben sein. Ihre Biographen gehen darauf durchaus ein.

Wenden wir uns dem summa summarum erfreulichen Teil des Abends zu: Der Musik. Anna Bolena, eine tendenziell unterschätzte Donizetti-Oper, hat es in sich. Dem klassischen italienischen Stil verpflichtet, nimmt sie mit fantastischen Kantilenen und packender Rhythmik, ausdifferenzierter und die Figuren charakterisierender Harmonik sowie einem dramaturgisch packenden Aufbau für sich ein.

Höhepunkte sind außer den Arien insbesondere die Duette der Titelfigur – gesungen von Federica Lombardi – und der befreundeten Rivalin, die hier Giovanna Seymour (historisch: Jane Seymour) heißt und von Vasilisa Berzhanskaya gesungen wird. Die beiden Frauenstimmen harmonieren ausgezeichnet miteinander, sind beide sehr kräftig und tragend und damit für das gemeinsame Singen ideal. Hier kann keine die andere an die Wand singen. Weil Giovanna zwar die nächste Ehefrau von Enrico werden wird (und dies wird bereits zu Beginn des Stückes klarmacht), aber auch die Hofdame und damit enge Vertraute Annas ist, hat es mit dieser Passung auch dramaturgisch seine Richtigkeit: Es geht eben nicht bloß um ein Gegeneinander, sondern auch um den Versuch weiblicher Solidarität. Anna vergibt Giovanna ausdrücklich mit dem Hinweis darauf, dass Enrico der Schurke sei, der die Strippen zieht.

Lombardi überzeugt dabei nicht nur mit stimmlicher Präsenz und nahezu perfekter Stimmführung, sondern auch mit feinen dynamischen Abstufungen. Ihr makelloser Sopran steht in der Tradition des Belcanto im Sinne des Schöngesangs. Zu hören ist weder eine sofort wiedererkennbare Stimme noch der innere Kampf, den Libretto und Partitur der Figur zugeschrieben haben. Wer wie ich die Callas in den Ohren hat, also diejenige Sängerin, die Anna Bolena überhaupt erst wieder auf die Spielpläne katapultiert hat, muss sich umgewöhnen. Ich gestehe allerdings, zwar zur Callas-Fraktion zu gehören, also lieber Emotion als Makellosigkeit zu hören (und zwar ohne die berüchtigten veristischen Seufzer, sondern einzig über die Musik vermittelt), doch kann ich auch dem Gegenentwurf einiges abgewinnen.

Für diesen steht auch Berzhanskaya. Zu bewundern ist bei ihr vor allem ein unglaublicher Stimmumfang, sowohl vom Volumen wie auch vom Tonumfang her. Die ebenso wie bei Lombardi bruchlos gesungenen Register reichen von tiefen warmen Alttönen bis in die höchste Exaltation und werden der verlangten Expressivität auf diese Weise gerecht. Allerdings: eine facettenreiche Charakterisierung der Figuren gelingt auf diese Weise nicht.

Anna ist recht eindimensional: eine edle Königin, die vor allem auf den Thron geschielt hat und diesem nun auch gerecht zu werden versucht. Und anders als in Text und Musik vorgegeben, ist Giovanna bloß die verführte Frau, die sich mit ihrer Ohnmacht quält und trotz etlicher Ansätze, dem König zu entgehen, die Ehe mit ihm nicht vermeiden kann. Und Punkt. Alles andere steht zwar im Text und wird ebenso von der Musik verlangt, ist aber in den Stimmen nicht hörbar. Das ist das Opfer, das dem Wohlklang gebracht werden muss und dem allein die Regie entgegenwirken könnte.

Auch die übrigen Stimmen überzeugen in ihrer Schönheit. Riccardo Fassis satter, gleichwohl zarter Bass passt zwar nicht ganz zu der ihm von der Regie zugeschriebenen, leider ebenfalls recht eindimensionalen Despotie, die er durch übertrieben maskuline Gestik und Mimik darzustellen versucht (meinem Begleiter kam dies überzeugend vor, mir eher weniger). Der Wohlklang ist jedoch wahrhaftige Wonne.

Durchaus beeindruckend der Tenor des Abends, René Barbera als Lord Riccardo Percy. Seine angekündigte leichte Indisposition aufgrund einer erst jüngst überwundenen Luftröhrenentzündung (was es nicht alles gibt!) ist zwar deutlicher hörbar als erhofft, doch scheint  seine helle, weiche, klare, gleichwohl volle Stimme dahinter immer noch schöner auf als die so manchen vermeintlich im Zenit seiner Kräfte stehenden Kollegen. Wir hoffen also auf völlige Genesung und dann auf ein nächstes Mal.

Schlussapplaus (Foto SG)

Bleiben die übrigen Solisten, der Chor und das Orchester der Deutschen Oper Berlin: Alle bestens aufgelegt, angeleitet von Enrique Mazzola am Pult und Jeremy Bines, der mit dem Chor wie immer allerfeinste Arbeit geleistet hat und die lange Tradition dieses Klangkörpers damit weiterhin verlässlich fortführt.

Fazit? Wer einigermaßen traditionellen, wunderschön gesungenen Belcanto erleben möchte, gehe hin. Für die Berührung im Innersten wähle man etwas Anderes.

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