Foto: Andrew Nolen (Der Alte) © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Aribert Reimann, Die Gespenstersonate
Kammeroper
Text von August Strindberg, aus dem Schwedischen übertragen und für Musik eingerichtet vom Komponisten und Uwe Schendel
Semperoper Dresden, Semper Zwei, 19. Februar 2023
Yura Yang, Musikalische Leitung
Corinna Tetzel, Inszenierung
Judith Adam, Bühnenbild & Kostüme
Jürgen Fahlbusch, Licht
Marco Dietzel, Künstlerische Mitarbeit am Bühnenbild
Benedikt Stampfli, Dramaturgie
Der Alte, Andrew Nolen
Der Student, Michael Pflumm
Der Oberst, Jürgen Müller
Die Mumie, Sarah Alexandra Hudarew
Das Fräulein, Jennifer Riedel
Johansson, Philipp Nicklaus
Bengtsson, Matthias Henneberg
Die dunkle Dame, Milena Juhl
Die Köchin, Eva Maria Summerer
Projektorchester
von Pauline Lehmann
Anders als der Student vermutet, verbirgt sich hinter der Hausfassade kein irdisches Paradies, sondern eine morbide Gemeinschaft. Sie ist gefangen im Strudel aus Geheimnissen und Lügen, Schuld und Sünde und umgeben von Gewalt und Mord, Krankheit und Tod. Bereits seit zwanzig Jahren trifft man sich zum Gespenstersouper. Im Theaterstück von August Strindberg, das dem Komponisten Aribert Reimann als literarische Vorlage für seine Kammeroper dient, die er 1983 im Auftrag der Berliner Festspiele komponierte, begegnet uns eine Gemeinschaft aus Lebenden und Toten, eine bizarre und irrationale Welt.
Der Alte, der über allerlei Wege mit dem Haus und seinen merkwürdigen Bewohnerinnen und Bewohnern verstrickt ist, stellt den Studenten, der als Sonntagskind Tote sehen kann, in seinen Dienst, damit dieser eine angebliche Schuld seines Vaters begleicht. Er soll das Fräulein, das der Alte für seine Tochter ausgibt, heiraten und die Geschicke des Hauses in eine bessere Zukunft lenken. Doch die Generalabrechnung des Alten scheitert. Der vermeintliche Richter wird selbst zum Gerichteten, über den sich das Todesurteil erstreckt, denn nur der Diener Bengtsson weiß, dass der Alte mit dem Milchmädchen einst eine Unschuldige getötet hat. Die Heirat des Studenten mit dem Fräulein erfüllt sich nicht, sie erliegt dem giftig-süßen Duft der Hyazinthen.
Betritt man den Saal in Semper Zwei, der kleinen Spielstätte der Semperoper Dresden, wird man überrascht: Die Reihen fürs Publikum schlängeln sich vor dem zwölfköpfigen Projektorchester vorbei und machen es möglich, die Bühne, die aus drei kreisförmigen Podesten besteht, von drei Seiten einzusehen. Die Regisseurin der Dresdner Erstaufführung, Corinna Tetzel, rückt das Sehen oder Nicht-Sehen, das subjektive Wahrnehmen der Geschehnisse in den Mittelpunkt. Dies bezieht sie nicht nur auf die Figuren, sondern auch auf das Publikum. Hier ist es ihr wichtig, dass der Blick von den einzelnen Plätzen aus ein individueller ist. Wir sind mittendrin und sollen mitbeobachten und Manches besonders gut und Anderes wiederum nicht sehen. So lädt die Regisseurin bewusst dazu ein, sich die Inszenierung mehrmals und von unterschiedlichen Plätzen aus anzuschauen. Etwaige Konzepte, dass das Publikum während der Aufführung die Plätze wechselt oder durch den Raum wandelt, setzt sie nicht um. Und obgleich man sich hier einen Rundumblick verschaffen möchte, muss man sich schlussendlich eingestehen, dass es gerade dies ist, was schlichtweg unmöglich ist.
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Am Anfang laufen die Figuren im Kreis, sie laufen voneinander weg oder hintereinander her. Jede und jeder geht für sich allein, hat seine eigene Welt und Wirklichkeit und doch sind alle auf diesem dunklen Rund miteinander verflochten und eben dort gefangen. Erst dann setzt die Musik ein: Süßliche Streichermelodien werden unterbrochen von schroffen Dissonanzen.
Judith Adam und Jürgen Fahlbusch verlagern das absurde Geschehen auf und um drei kreisförmig gestufte Podien. Dort lassen sich Wände verschieben, Garderobenständer verweisen auf das Kommen und Gehen und Stapel alter Zeitungen auf die vergangene gelebte Zeit. Der Spiegel zeigt allenfalls ein Abbild der Menschen. Alles ist Fassade, alles ist schemenhaft und täuscht. Die Bilder, die der Alte anfangs mittels eines Dia-Projektors an die Wand wirft, bleiben verschwommen. Mittels eines Käfigs verschließt sich die Mumie ihrer Wirklichkeit, dem Beischlaf mit dem Alten ebenso wie der Gewalt, die ihr in der Ehe mit dem Obersten widerfahren ist.
Die Dresdner Inszenierung fasst die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses als eine starre, eiskalte Gemeinschaft, die sich meist aneinander vorbei bewegen, aber auch die Worte der anderen flüsternd nachsprechen. In ihren adretten Kleidern zeigen die Figuren eine aalglatte Oberfläche – kafkaesk. Was damit jedoch verloren geht, ist das geheimnisvolle, ja schaurige Moment.
Mit der Idee der kreisförmigen Podeste kann ich zunächst nicht so richtig warm werden. Zu präsent ist mir das wunderbare Bühnenbild, das Dietrich Schoras für die Uraufführung im Berliner Hebbel-Theater im Jahr 1984 entworfen hat: Ein u-förmiges Glasdach, welches durch Metallstreben gerastert ist und nach vorn hin ansteigt und auf diese Weise Einblick gibt in das Obergeschoss des Hauses mit seinen skurrilen Bewohnerinnen und Bewohnern und deren mannigfachen Verstrickungen.
In das obere Rund der Bühne setzen Judith Adam und Jürgen Fahlbusch eine hölzerne Kirchenbank und die Regisseurin Corinna Tetzel äußert im Nachgespräch, dass für sie der Glaube in die Kreismitte rücke. Bei August Strindberg offenbart der Student dem Fräulein in der Schlussszene, dass sein Vater im Irrenhaus verstarb, nachdem er seine vermeintlichen Freunde der Heuchelei überführte. Während der Student anfangs glaubte, in diesem Haus das Paradies auf Erden zu finden, ist seine Illusion nun gebrochen: „Wo gibt es Ehre und Glauben? In den Märchen und den Kindervorstellungen!“ Die Kreismitte bleibt leer, denn obgleich der Student mit seinem „Wehe“-Ruf in einer Parsifal-Reminiszenz den Erlöser herbeisehnt, gibt es für den modernen Menschen nach Nietzsche diese Option bekanntlich nicht mehr. Alles bewegt sich im Kreis. Das ist das Dilemma, was uns Corinna Tetzel eindrücklich und überzeugend vermittelt. „Gut ist, schuldlos bleiben.“
Im Nachgespräch zeigt sich, dass die Inszenierung auch einen Anlass dazu bietet, um nach der Zukunft der (modernen) Oper zu fragen. Was braucht es, um das Publikum für das moderne Musiktheater zu begeistern? Nicht jede und jeder kommt belesen in die Oper. Und wie (sehr) sollte sich der Opernbetrieb neuen Formen des Zugangs zum Musiktheater öffnen? Auch für die südkoreanische Dirigentin Yura Yang, die ihren Einstand an der Semperoper Dresden gibt, ist die Bühnensituation eine besondere, sie hebt die „Nähe“, „Intimität“ sowie die „Enthierarchisierung des Musiktheaters“ hervor.
Der Dirigentin Yura Yang gelingt es, das dichte Gewebe, in welchem sich Musik und Text gegenseitig ergänzen, akribisch und sensibel zu durchdringen. Mit Andrew Nolen in der Partie des Alten und Michael Pflumm als Studenten sind beide Rollen sängerisch wie darstellerisch topbesetzt. Gerade die Partie des Studenten, die Aribert Reimann ursprünglich für David Knutson geschrieben hatte, ist durch die Wechsel vom Tenor- ins Countertenorfach, die den Satzenden einen Nachdruck verleihen, herausfordernd. Michael Pflumm gibt sich gleichermaßen lyrisch wie emphatisch und mit beweglicher und keineswegs beengter Stimme in der oberen Lage. Matthias Henneberg passiert als Diener Bengtsson ein Textpatzer. Wunderbar ist auch Sarah Alexandra Hudarew als grau gekleidete Mumie, welche die verschiedenen Facetten der Figur herrlich übermittelt: Die bizarren schrillen Papagei-Rufe und ihre dunklen Vergangenheitserinnerungen ebenso wie ihre Klarsichtigkeit.
Pauline Lehmann, 23. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dresdner Gedenktag, Hans Werner Henze Kulturpalast Dresden, 13. Februar 2023