Sinfoniekonzert zum Dresdner Gedenktag: „Als gäbe es nur dieses Boot, nur dies raschelnde Schilf, nur diesen einen Tag“

Dresdner Gedenktag, Hans Werner Henze  Kulturpalast Dresden, 13. Februar 2023

Janowski © kulturpalast -dresden.de

Dresdner Gedenktag

Hans Werner Henze: Sinfonia N. 9 für gemischten Chor und Orchester
Dichtung nach Anna Seghers’ Roman „Das Siebte Kreuz“ von Hans-Ulrich Treichel

„Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet“

Marek Janowski, Dirigent
James Wood, Choreinstudierung
Karolina Juodelyte, Orgel

MDR-Rundfunkchor
Dresdner Philharmonie

Kulturpalast Dresden, 13. Februar 2023

von Pauline Lehmann

 

Anlässlich des Dresdner Gedenktages zum 13. Februar bringen die Dresdner Philharmonie und der MDR-Rundfunkchor unter der Leitung von Marek Janowski Hans Werner Henzes Sinfonia N. 9 zur Aufführung. Für die expressive Sprache der Sinfonie, die unpathetisch, dafür aber offen und geradeheraus ist, zeigt der Dirigent ein feinfühliges Gespür. Marek Janowski tariert Chor und Orchester präzise aus – man denke an die immens herausfordernden Dynamikkontraste, wenn sich teils sogar mehrfache Piani und Forte-Stellen überlagern. Eine besondere Glanzstelle dieser tiefgehenden Interpretation ist für mich das Ende des zweiten Satzes, wenn das „Weh“ des Chores begleitet von den tiefen Streichern ins Nichts verhallt.
Marek Janowski, der seit der Saison 2019/20 zum zweiten Mal Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Dresdner Philharmonie ist und am 18. Februar seinen 84. Geburtstag begeht, liegt das sinfonische Œuvre Hans Werner Henzes besonders am Herzen. So legte er zusammen mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bei Wergo eine Gesamteinspielung der Sinfonien vor, die er 2014 mit der Zweiten und Zehnten beschloss. Am Pult der Dresdner Philharmonie dirigiert er die Neunte nunmehr zum zweiten Mal, jede Klangvorstellung formt er haargenau aus.

Was ist im 20. Jahrhundert angesichts des Zivilisationsbruchs, wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler die Jahre von 1933 bis 1945 bezeichnete, aus Beethovens Freudentaumel und den verheißungsvollen Ideen von Humanität und Brüderlichkeit geworden? „Den Helden und Märtyrern des deutschen Antifaschismus gewidmet“, berichtet Hans Werner Henzes Neunte – komponiert in den Jahren 1995 bis 1997 als Auftragswerk der Berliner Philharmonie und der Berliner Festwochen – in sieben Sätzen von Flucht und Verfolgung, Todesangst und Tod, aber auch von Hoffnung und Rettung.

Bereits Ende 1987 hatte sich Hans Werner Henze dafür entschieden, Anna Seghers’ Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland zum Thema seiner Neunten zu machen. Auf dem „Tanzplatz“ des Konzentrationslagers Westhofen werden sieben Kreuze aus sieben gefällten Platanen aufgestellt, sie sind als Richtplätze für die sieben Häftlinge bestimmt, die an einem nebligen Herbstmorgen aus dem Lager geflüchtet sind. Nur das siebte Kreuz bleibt leer, ein „holländischer Schiffer, der allerlei riskiert“, bringt den Protagonisten Georg Heisler über den Rhein. Aus der Romanhandlung, die sich in sieben Kapitel unterteilt, formt der Textdichter Hans-Ulrich Treichel sieben ausdrucksstarke Bilder.

Die Sinfonia N. 9 ist das politische und erinnerungskulturelle Statement eines Zeitzeugen, eine „Direktkonfrontation“, wie der Komponist in seiner Autobiographie Reiselieder mit böhmischen Quinten schreibt. Anlässlich des 80. Geburtstags Hans Werner Henzes im Jahr 2006 würdigt Kurt Masur die Sinfonia N. 9 als ein „Signal für die Menschheit […], daß bei Entscheidungen ähnlicher Art in Zukunft die Hoffnung besteht, daß eines Tages alle Märtyrerkreuze freibleiben; mit einem Wort genau das gleiche, was Beethoven mit dem Finale seiner Neunten ausdrücken wollte: Hoffnung“.

„Meine neunte Sinfonie befasst sich mit der deutschen Heimat – so, wie sie sich mir dargestellt hat, als ich ein junger Mensch war, während des Krieges und schon zuvor. […] Was in dieser Sinfonie geschieht, ist eine Apotheose des Schrecklichen und Schmerzlichen. Sie ist eine Summa summarum meines Schaffens, der Versuch einer Abrechnung mit einer willkürlichen, unberechenbaren, uns überfallenden Welt. Statt der Freude, den schönen Götterfunken zu besingen, sind in meiner Neunten den ganzen Abend Menschen damit beschäftigt, die immer noch nicht vergangene Welt des Grauens und der Verfolgung zu evozieren, die weiterhin ihre Schatten wirft. Eine deutsche Wirklichkeit, ist diese Sinfonie aber vor allem Ausdruck der allergrößten Verehrung für die Leute, die Widerstand geleistet haben in der Zeit des nazifaschistischen Terrors und die für die Freiheit der Gedanken ihr Leben gegeben haben“, schreibt Hans Werner Henze im Vorwort der Partitur.

„In großer Erregung“, wie es in der Partitur heißt, mischen sich im ersten Satz, Der Flucht, die todesängstlichen, stockenden Worte des namenlosen Protagonisten mit den tosenden Orchesterklängen. Süßlich und „fiedelnd“ umrahmen die Soli der ersten und zweiten Violine den grotesken Traum von einem Gestern, als der Flüchtende noch mit jenen, die ihn heute verfolgen, am Stammtisch Lieder sang: „Auch in der Hölle spielt die Musik.“ Im zweiten Satz, Bei den Toten, hält Marek Janowski das Orchester in einem flirrenden, sublimen Schwebezustand, während im Bericht der Verfolger – begleitet vom Ping einer „(Polizei-)Büroschreibmaschine“ sich die Verfolger äußern – brutal, kaltblütig und sadistisch. Beeindruckend ist auch der durchscheinende Klang der Frauenstimmen, die das einstige Gedeihen der Platane besingen, bevor sie ihren mit Sägen und Äxten anrückenden Mördern zum Opfer fällt.

Durchdringend und einschneidend erklingt das „gran canto“ der Streicher nach dem Freitod des Artisten Belloni, ein Künstler und freier Geist, der wie ein verwundeter Adler ein letztes Mal auf dem Hoteldach seine Flügel ausbreitet, bevor ihn seine Verfolger fassen konnten. Im längsten Satz, Nachts im Dom, tritt aus dem Chor ein zwölfstimmiger Kammerchor heraus, sublim ist der Gesang der Heiligen und Toten, beinahe geisterhaft geflüstert die Angst des Flüchtenden vor dem Nicht-mehr-Sein. Er findet in der Kirche, „in diesem Himmel aus Stein“, keinen Gott.

Nach einer knappen Stunde endet die Neunte mit einem dreifachen Piano. Ein Schiff bringt den namenlosen Protagonisten ans andere Ufer eines Flusses; die Fahrt vollzieht sich im Stillen, sie ist unheroisch und steht für sich – ein Zufall, ein Glücksumstand? Denn eine Gewähr und eine Gewissheit, dass sich die Dinge zum Guten wenden, die gibt es nicht. Eine ebenso hoffnungsvolle wie mahnende Botschaft.

Das Konzert wird am 17. Februar ab 20 Uhr von MDR Kultur gesendet. Überaus hörenswert!

Pauline Lehmann, 15. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

TRIO ADORNO, Hans Werner Henze, Robert Schumann, Alfred Schnittke Akademie International (Konzertsaal Altona)

Hans Werner Henze, Das Floß der Medusa, Elbphilharmonie, Hamburg

Franz Schubert, Klaviersonate A-Dur D 959, Klaviersonate B-Dur D 960, Peter Rösel, Klavier Kulturpalast Dresden, 25. November 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert