Lisa Batiashvili und Jörg Widmann lassen die Musen über die Tränen siegen

Artist in Residence-Konzert  Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, 10. April 2024

Lisa Batiashvili © Stefan Hoederath

Jörg Widmann, Tränen der Musen für Klarinette, Violine und Klavier
Tsotne Zedginidze, Impromptu für Klavier solo
Tsotne Zedginidze, Sonate für Violine und Klavier
Claude Debussy, Sonate für Violine und Klavier g-Moll
Jörg Widmann, Zirkustänze
Sergej Prokofjew, Ouvertüre über hebräische Themen op. 34

 Lisa Batiashvili

Jörg Widmann
Denis Koszukhin
Tsotne Zedginidze
Mitglieder der Berliner Philharmoniker

Artist in Residence-Konzert im
Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, 
10. April 2024

von Sandra Grohmann

Georgien ist verletzt. Der Konflikt in Abchasien und Südossetien hat dazu geführt, dass Russland dort militärische Rückzugsmöglichkeiten aufgebaut hat und damit die völkerrechtlich noch zu Georgien gehörenden Gebiete in den Krieg mit der Ukraine hineinzieht.

Georgien musiziert. Es bringt so wunderbare Musikerinnen wie Lisa Batiashvili hervor und neue Talente wie den von ihr entdeckten und von ihrer Stiftung geförderten, erst vierzehnjährigen Tsotne Zedginidze.

Gemeinsam mit Jörg Widmann, Denis Kozhukhin und Mitgliedern der Berliner Philharmoniker beweisen sie im Berliner Kammermusiksaal der Philharmonie in einem wohldurchdachten, stimmigen Programm, dass die Tränen die Musen nicht zum Schweigen bringen.

Schon mit dem ersten Stück des Komponisten Jörg Widmann, der heute – wie so oft – zugleich als Klarinettist auf der Bühne zu erleben ist, wird der Krieg und sein Spannungsverhältnis zu den Künsten thematisiert. Er greift damit das Sprichwort auf, dass die Musen schweigen, wenn die Waffen sprechen, und stellt dessen Gültigkeit in Frage.

Jörg Widmann Composer-Clarinettist © Marco Borggreve

Während des Bosnienkrieges entstanden, lebt „Die Tränen der Musen“ von einem tieftraurigen, über lang geatmete Pausen erhaltenen Erzählton, der zugleich die zu Herzen gehende und mitreißende Musik trägt. Es ist ein Glücksfall, dass die beiden vortragenden Musiker ihren Instrumenten vielfarbige Töne zu entlocken vermögen: Batiashvili und Widmann sind unbestrittene Meister der Tonfärbung, der Dynamik und des musikalischen Pulses. Man hört sofort das Herz der Musik schlagen, wenn sie anheben. Vor allem aber passen ihre instrumentalen Stimmen perfekt zueinander. Geige und Klarinette röhren, kieksen, atmen tonlos und singen in höchst einiger Harmonie.

Dass die nachvollziehbaren, teils geradezu eingängigen zeitgenössischen Kompositionen von Widmann wie auch von Zedginidze, der im Anschluss zunächst als Solist und sodann gemeinsam mit Lisa Batiashvili begeisterte, nicht für einen ausverkauften Saal sorgen, ist dabei schon schade. Leute hören zeitgenössische Musik sofort, wenn sie unter dem „U“-Label auf den Markt geworfen wird. Aber im „E“-Bereich hat sie es schwer. Nichts gegen Bach, Beethoven und Brahms, aber habt auch keine Angst vor dem, was heute passiert!

Lisa Batiashvili © André Josselin

Zedginidze etwa, ein vielversprechendes Talent, hat sich – wie Batiashvili und Widmann erzählen – als bereits komponierendes sechsjähriges Kind zwar an Stockhausen & Co. orientiert, schreibt heute aber eher im spätromantischen Stil, durchaus mit Anklängen an Debussy. Seine energetischen, einen klaren Aufbau erkennen lassenden, zupackenden und vor allem in der Violinstimme große Bögen zeichnenden Stücke machen heute Abend, wie das ganze Programm überhaupt, einfach glücklich.

Das liegt natürlich mit daran, das Lisa Batiashvili hörbar Herzblut in ihre Interpretationen legt. Sie lebt diese Musik, und das überträgt sich unmittelbar. Ihr einzigartiger Geigenton bringt nicht nur die Luft zum Schwingen, sondern die Seelen. Mit der auf Zedginidze folgenden g-Moll Violinsonate von Debussy treibt sie zusammen mit dem wunderbaren Denis Kozhukhin die musikalische Glückseligkeit auf die Spitze. Meine Begleitung und ich sind schon zur Pause schlicht happy.

Nach der Pause folgt noch einmal Kozhukhin solistisch mit Jörg Widmanns Zirkustänzen. Seine pianistische Meisterschaft sucht ihresgleichen. Zeitweise scheint er mit dem Flügel zu verschmelzen, entlockt ihm Flüstertöne und Seufzer, dann wieder groteske und brüllende Flüche, swingt zu Boogie Woogie, veralbert Walzer und Marsch, träumt sich nachdenklich über die Begrenzung des Saales hinweg mit Hebräischer Melodie und Venezianischem Gondellied.

Die Hebräische Melodie ist es, die zu der mit einem Sextett aus Streichquartett, Klarinette und Klavier besetzten Ouvertüre über hebräische Themen von Prokofjew überleitet, zu der sich der Komponist bei einem New York-Aufenthalt überreden ließ. Von den Philharmonikern, die sich hierfür um Widmann und Kozhukhin sammelten, strahlt vor allem Solène Kermarrec am Cello, begleitet von ihren Violinisten-Kollegen Alessandro Cappone und Rachel Schmidt sowie Micha Afkham an der Viola. Widmann in ihrer Mitte lässt seine wiederum umwerfenden Ton erstehen, Kozhukin fügt sich zurückhaltend ein. Die Themen sind Ohrwürmer, wie zum Mitsingen.

Das Konzert entlässt mich aus dem Saal tänzelnd. Die Musen haben über die Tränen gesiegt, auch wenn sie sie nicht beseitigen können.

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