Auf den Punkt 33: Max hat Bindungsangst… und Yoel Gamzou den Freischütz-Groove

Auf den Punkt 33:  Webers Freischütz  Staatsoper Hamburg, 23. November 2024

Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ © Brinkhoff-Moegenburg

Carl Maria von Weber, Der Freischütz

Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Musikalische Leitung:  Yoel Gamzou

Inszenierung:  Andreas Kriegenburg

 Staatsoper Hamburg, 23. November 2024

von Jörn Schmidt

Der Freischütz ist im Grunde eine phantastische Oper, ein Meilenstein der Musikgeschichte. Während Mozart Emotionen nur mit Klangfarben ausdrückte, ordnet von Weber den Gefühlen musikalische Themen zu. Richard Wagner hat sofort erkannt, wie genial sich mit solchen Leitmotiven arbeiten lässt. Hector Berlioz übrigens auch, da heißen die Leitthemen idée fixe. Aber was bei Wagner und Berlioz zeitlos-elegant kommt, lässt mich seit jeher mit dem Freischütz fremdeln. Die Oper hinterlässt bei mir immer auch ein Gefühl von Konformismus und Enge.

Jägerbursche Max wächst mit Bräuchen, Traditionen und Regeln auf. Er ist in Agathe verliebt, aber wer nun denkt, die Ehe weist den Liebenden den Ausweg aus bürgerlicher Enge, der täuscht sich. Sein Schwiegervater in spe weiß, wie man seinen Kindern den eigenen Lifestyle umhängt. Er verspricht Max die Erbförsterei, wenn er Agathe heiratet – und einen dämlichen Brauch erfüllt. Max muss mit einem einzigen  Probeschuss seine Treffsicherheit beweisen, sonst gibt es weder Frau noch Försterei.

Easy, denken Sie als vortrefflicher Schütze, so bequem würden Sie auch gerne mal an eine Erbförsterei kommen? Nun, das habe ich hier bei klassik-begeistert schon mal geschrieben: Wer so denkt, der geht nicht oft genug in die Oper. Die Aussicht, mit einem Fehlschuss alles zu verspielen, lähmt Max. Plötzlich ist die Leichtigkeit weg, er triff nichts mehr.

Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ  © Brinkhoff-Moegenburg

Oder liegen die Gründe vielleicht tiefer? Für mich ist klar, Max hat offensichtlich Bindungsangst, je näher die Hochzeit rückt – deshalb trifft er nicht mehr. Den Jägerburschen als Bindungsphobiker zu inszenieren, das wäre mal was. Das Libretto gibt das nicht unbedingt her, aber wann hat sowas Anhänger des Regietheaters jemals gestört.

Wie auch immer, jedenfalls lässt sich Max mit dem Teufel ein und erhält von diesem im Gegenzug unfehlbare Kugeln. Was er nicht weiß:  Unter den Kugeln ist eine Teufelskugel, deren Bestimmung es ist, maximales Unheil anzurichten. Es gibt dann aber doch noch ein bürgerliches Happy End.

Andreas Kriegenburgs Kulisse visualisiert diese gern auch mit Deutschtümelei assoziierte  beengende  Atmosphäre ziemlich gut. Er inszeniere wie im Heimatfilm der 50er-Jahre, hat Peter Helling vom NDR dazu geschrieben. Das klingt plausibel, ich habe es aber nicht verprobt. Mir haben bis heute Zeit und Muße gefehlt, für derlei Schinken den Fernseher anzustellen. Ich gehe lieber in die Oper.

Aber dass die 50er-Jahre generell ein Synonym für Spießigkeit sind, da widerspreche ich. In dem Jahrzehnt wurden zum Beispiel in der Musik ganz und gar nicht spießige Grundlagen gelegt, die in Rock und Pop bis heute fortwirken. Und das ist nur ein Beispiel für die Kräfte, die seinerzeit freigesetzt wurden.

Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ
© Brinkhoff-Moegenburg

Yoel Gamzou hört übrigens auch Rock und Pop, er hat das mal dem Magazin Cicero anvertraut. Eigentlich höre er jede Art von Musik, so lange sie nur gut ist. Ganz und gar nicht spießig, der Dirigent. Und das rettet den neuen Hamburger Freischütz. Zuvörderst die Chöre, aber auch der Orchesterpart klingen unter der Anleitung von Gamzou befreit vom Biedermeier-Zeitgeist.

Wie konnte das gelingen? Gamzou gibt die Antwort bereits mit der Ouvertüre, er macht von Tempo bis Dynamik alles ein wenig anders, als man es gewohnt ist. Die dunklen Klangfarben werden so ihrer deutschen Wald- und Wolfsschluchtromantik entkleidet. Was sich da andeutet, ist kein Waldspaziergang, sondern die seelische Not eines jungen Bräutigams.

Aber wie kann es sein, dass musikalisches Gegen-den-Strich-Bürsten beim Freischütz so gut funktioniert? Ich glaube, Schlüsselfunktion hat dabei die Rhythmik. Sichtlich zur Freude des Solo-Paukers fordert Gamzou hier die größten Kontraste, Brian Barker dankt es mit fast schon intuitiv gesetzten Akzenten.

Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ  © Brinkhoff-Moegenburg

Es ist schon oft untersucht worden, warum ein echtes Schlagzeug dem Hörer in der Regel besser gefällt als  virtuelle Drums. Zu diesem Zweck hat man Probanden ein und denselben Rocksong in zwei Fassungen vorgespielt, wobei jeweils nur das Schlagzeug unterschiedlich besetzt war. In Version 1 hat ein Mensch zu den Drumsticks gegriffen, in Version 2 übernahm das ein Computer.

Und, oh Wunder, dem Großteil der Probanden gefiel die handgemachte Musik deutlich besser. Dabei spielen Timing und Groove eine große Rolle, wie Marian Hepp in seiner Arbeit „Mensch vs. Maschine – Möglichkeiten, Grenzen und Nutzen von virtuellen Drums in der Rockmusik“ herleitet:

„Theoretisch könnte man also zu der Schlussfolgerung kommen, dass ein Schlagzeuger, der auf den Punkt genau spielt, musikalisch den größten Nutzen bringt. Tatsächlich ist es allerdings so, dass viele Drummer absichtlich minimal im Tempo variieren und bestimmte Schläge verzögern oder vorziehen, um einen bestimmten Fluss im Spiel zu erzeugen. Dies wird als Groove oder auch Swing bezeichnet.“

Kurzum, virtuelle Drums haben kein Groove, wohl aber das Freischütz-Dirigat von Yoel Gamzou und Brian Barker sowieso. Da haben Konformismus und Enge keine Chance, und das tut dem Freischütz unendlich gut. Mega.

Jörn Schmidt, 24. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Carl Maria von Weber, Der Freischütz Staatsoper Hamburg, Premiere am 17. November 2024

Carl Maria von Weber, Der Freischütz Staatsoper Hamburg, Premiere am 17. November 2024

CD/Blu-ray Besprechung: Carl Maria von Weber, Der Freischütz klassik-begeistert.de, 5. Oktober 2024

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