© Theater Lübeck/Olaf Malzahn
Ein One-Hit-Wonder führt ihn direkt in die Altersarmut und eine große Liebe zu verspäteter Selbstreflexion. Evmorfia Metaxaki steuert schneidende Kälte bei und Stefan Vladar hält das Orchester im Zaum. Warum nur?
Giacomo Puccini (1858 – 1924)
La Bohème
Text von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica
(nach dem Roman Scènes de la vie de Bohème von Henri Murger)
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Uraufführung am 1. Februar 1896, Turin (Teatro Regio)
Chor des Theater Lübeck
Kinder- und Jugendchor Vocalino
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Stefan Vladar – Musikalische Leitung
Angela Denoke – Inszenierung
Timo Dentler, Okarina Peter – Bühne und Kostüme
Theater Lübeck, 3. Mai 2024
von Jörn Schmidt und Regina König
Würden Sie Ihr Manuskript verbrennen, weil Ihnen kalt ist, wenn Sie doch wissen, dass Sie gerade Weltliteratur zu Papier gebracht haben? Natürlich nicht, erst recht dann nicht, wenn Sie ein gewisses Talent haben, auf Kosten anderer zu leben. Fragen Sie mal seinen Vermieter. Oder den Momus-Wirt.
Mit ein wenig Geschick hätte sich leicht eine Finte finden lassen, wie man zum Jubel aller ohne eigenes Geld an Brennbares kommt. Warum also landen all die schönen und dramatischen Buchstaben im Feuer? Angela Denokes Inszenierung gibt eine interessante Antwort, indem Sie Rodolfo und seine Freunde als alte Männer zeigt, die ausweislich des Bühnenbilds früher mal in Wohlstand lebten. Nun ist die prächtige Behausung arg heruntergekommen. Kein Geld mehr für die Instandhaltung, und auch die weiteren Umstände symbolisieren Altersarmut.
Das lässt nur einen Schluss zu, der Erstling von Rodolfo war ein One-Hit-Wonder, ein großer Wurf, der lange Zeit Tantiemen abwarf. Danach kam aber nicht viel mehr als brennbares Drama und der Lebensstil wurde zu spät angepasst. Da möchte man Rodolfo wenigstens das große private Glück gönnen und wir freuen uns sehr, dass Mimì ihm das Herz wärmt, nur um dann miterleben zu müssen, wie die Beiden ihre Liebe aufgrund einiger Fehleinschätzungen fast an die Wand fahren.
Doch die Liebe ist stärker und Mimì findet zurück in Rodolfos Arme, leider nur um dort zu sterben. Rodolfo geht damit um wie mit allen anderen Imponderabilien bzw. Prüfungen, die das Leben bislang für ihn bereithielt: Er verdrängt, will es nicht wahrhaben: „Vedi?… È tranquilla.“ Sie schläft ja nur. Vor dem Tod kann man die Augen indes nicht allzu lange verschließen.
Gesanglich ist die Oper ein einziger Showdown zwischen Rodolfo und Mimì, die übrigen handelnden Figuren fallen dramaturgisch mehr oder weniger in die Rubrik Nebenrolle. Sind aber mit Gerard Quinn (Marcello), Jacob Scharfman (Schaunard), Changjun Lee (Colline), Natalia Willot (Musetta), Steffen Kubach (Benoît alias Alcindoro), Mark McConnell (Parpignol), Chul-Soo Kim (Sergeant bei der Zollwache) und Yong-Ho Choi (Zöllner) zum Glück allesamt überzeugend besetzt. Im famosen Lübecker Ensemble stimmt es einfach, menschlich wie fachlich.
Darum wundert es kaum, dass nur Rodolfo mit Iurie Ciobanu auswärtig besetzt war, Evmorfia Metaxaki als Mimì gehört zur Lübecker Family. Seit 2014. Ciobanu gestaltet vielschichtig. Kraftvoll, solange Rodolfo in seiner Scheinwelt lebt, als gelte es, seinen leichtfertigen Lebensentwurf zu verteidigen. Klangschön angesichts großer Liebe und dann, auf den letzten Metern, zerrissen, als das Kartenhaus der unbeschwerten Künstlerwelt auch in seinem Kopf zusammenbricht. Dabei aber stets mit tenoraler Würde. Metaxaki arbeitet sich mit unglaublicher Leichtigkeit an Mimìs Anamnese ab, die Krankheit schwingt vom ersten Ton an irgendwie mit. Bis zum letzten Atemzug ist ihr engelsreiner Sopran kraftvoll und durchdringend, dabei oft recht kalt und fast schon schmerzhaft-schneidend. Als wollte sie den Tod verjagen.
Gleichzeitig nahm Stefan Vladar die Lautstärke des Orchesters über weite Strecken hörbar zurück, egal ob gerade auftrumpfend und jubilierend oder zurückhaltend und feinsinnig gespielt wurde. Hilfestellung für die Sänger bedurfte es mitnichten, nicht nur Evmorfia Metaxaki hat das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck in Grund und Boden gesungen. Bleibt als Erklärung nur noch suggestive Klangrede: In Vladars Lesart, dabei abweichend von der Inszenierung, erscheinen die Lebenslügen plötzlich als normale Turbulenzen des Lebens. Noch wichtiger, er nimmt dem Tod seinen Schrecken, wie ein guter Sterbebegleiter. Darin lag der eigentliche Zauber des Abends.
Jörn Schmidt und Regina König, 4. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die nächsten Vorstellungen sind am 26. und 29. Mai sowie am 6. Juni. Und bereits am 5./6. Mai spielt und dirigiert Stefan Vladar in der Lübecker MUK Mozarts letztes Klavierkonzert, nach der Pause wird Bruckner 4 gegeben.
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