Um Mitternacht: Anna Laudere, Edvin Revazov, Silvia Azzoni.
Foto: Ralf Wegner
„Überhaupt ist es ein Abend der Frauen. Madoka Sugai sagte einmal in einem Interview, dass sie, wenn nicht Tänzerin, Olympiasiegerin werden wollte. Das merkt man ihr an. Sie zeigt eine vollkommen beherrschte Körperkraft, die es ihr ermöglicht, jeder technischen Anforderung leicht und im Ausdruck dennoch feminin nachkommen zu können.“
Staatsoper Hamburg, 22. Oktober 2020
Ballette für Klavier und Stimme, 4 Ballette von John Neumeier
von Ralf Wegner
Wie es war? Schön, die Zeit verging wie im Fluge. Und doch fällt es schwer, das Gesehene zu beurteilen. Neumeier kombiniert vier unterschiedliche, nicht aufeinander bezogene, handlungslose Ballette, die im tänzerischen Detail aufwendig und vor allem im ersten und letzten Ballett, schon von der Musik her (Bach und Mahler) durchaus anspruchsvoll sind. Das zweite Ballett überschreibt Neumeier mit Broadway’s Pawlowa – ein imaginäres Portrait von Marilyn Miller (Musik: George Gershwin). Es handelt sich um eine Tanzsuite für sieben Tänzerinnen, welche die Facetten der US-Amerikanerin Marilyn Miller, einem früheren Broadway Musicalstar, in die heutige Zeit transponieren. Wie eine Pawlowa, ein nach Anna Pawlowna benanntes Gebäck – basierend auf Baiser mit Sahne und Beeren – kommt Neumeiers Ballett daher. Nur nicht ganz so zuckersüß, eher wie ein lauer Spätfrühlingstag oder ein luftiger, noch warmen Herbstabend, der die Seele erfrischt und die düsteren Coronazeiten vergessen lässt.
Das dritte Stück, Nocturnes (Musik: Frederic Chopin), nähert sich Anton Tschechows Beziehungskarussel an, wie Neumeier im Programmheft schreibt. Mit fünf Tänzerinnen und fünf Tänzern entwickelt Neumeier, beginnend mit einem Treffen an der offenbar sonntäglichen Kaffeetafel, Beziehungen und die entsprechenden Verwirrungen zwischen diesen mit einem zentralen, überaus beeindruckenden und berührenden Pas de deux eines Paares, welches in der Liebe und im Leid zusammengestanden hat, sich vertraut und auch die Widersprüche nicht überdeckt.
Silvia Azzoni und Alexandre Riabko gelingt dieses tänzerische Meisterwerk mit einer Darstellungskraft, welches auch die Schauspieler auf der Tschechov-Bühne nicht übertreffen können. Es ist schon enorm, welche sprungtechnische Leistung Riabko immer noch zeigt und mit welcher Grandezza und unglaublichen Körperspannung Silvia Azzoni sich ihrem Partner und Ehemann anvertraut. Das andere maßstabsetzende Ehepaar, Anna Laudere und der sichtlich erschlankte Edvin Revazov, erinnerten mit ihrem Paartanz an den grandiosen Italien-Pas de deux aus Neumeiers Anna Karenina, für mich einer der schönsten Ballettschöpfungen überhaupt. Lauderes fließende Bewegungen, ihre Beinhaltungen und ihr unbedingtes Vertrauen, vom Partner gehalten zu werden, zeigen eine Ergebenheit, die aus der Liebe kommt. Ihr Tanz gleicht einer – sich nur bei entsprechender Zuwendung – öffnenden, ihr Inneres preisgebenden Rose.
Überhaupt ist es ein Abend der Frauen. Madoka Sugai sagte einmal in einem Interview, dass sie, wenn nicht Tänzerin, Olympiasiegerin werden wollte. Das merkt man ihr an. Sie zeigt eine vollkommen beherrschte Körperkraft, die es ihr ermöglicht, jeder technischen Anforderung leicht und im Ausdruck dennoch feminin nachkommen zu können. Nie befürchtet man bei ihr, dass sie stürzen könnte. Und wenn sie vom Partner fallen gelassen würde, gelänge ihr wohl ein Abrollen wie beim Judo. Man schaue sich nur einmal ihre kurzen Videoclips auf Instagram an, bei denen sie den Männern u.a. zeigt, was eine perfekte Doppeldrehung (tour en l’air) ist. Wenn Ihr Partner Nicolas Gläsmann im ersten Stück Vaslaw sie so wirft, dass sie mit den Fußspitzen auf den Ballettboden trifft, ist das überaus beeindruckend. Dass sie die Drehnungen bei den Pirouetten (zweites Stück) präzise beherrscht, ist da schon selbstverständlich. Auch Yaiza Coll, noch Gruppentänzerin, macht auf sich mit einer außergewöhnlichen Bühnenpräsenz und großer körperlichen Biegsamkeit aufmerksam, wobei ihr das rote Kleid in den Nocturnes besonders gut steht. Von ihr würde man gern mehr sehen.
Aleix Martinez ist ein herausragender Tänzer. Als Nijinsky, in Neumeiers gleichnamigem Ballett, eroberte er sich im September 2016 mit einer körperlich übersteigerten, expressiven Darstellung das Publikum, desgleichen mit seiner Rolle als jüngerer, verwirrter Bruder Nijinskys. Auch sein Louis aus Liliom und sein Lewin in Anna Karenina gelangen ihm genial. Martinez ist im gewissen Sinne ein moderner Tänzer, bei dem die klassische Pose auf mich immer etwas fremdartig wirkt. So schien es mir auch bei seiner Gestaltung des Vaslaw zur streng-klassischen Musik von Johann Sebastian Bach. Allerdings fehlen mir die Vergleichsmöglichkeiten. Alexandr Trusch, der den Vaslaw in den anderen Vorstellungen tanzte, habe ich nicht gesehen, auch ist meine Erinnerung an meine letzte Vaslaw-Aufführung (1981 mit Kevin Haigen) nicht mehr so gegenwärtig.
Das den Abend abschließende Ballett Um Mitternacht (Musik: Gustav Mahler, Rückert-Lieder) litt etwas unter der dominant-lauten Stimme des Baritons Benjamin Appl. Bei vollem Orchestereinsatz und gut besetztem Haus wäre das wohl angemessen gewesen. Die Corona-bedingt nur schütter besetzten Reihen und bei alleiniger Klavierbegleitung (Gary Matthewman) wurde die Stimme aber nicht genügend gedämpft. So lenkte der Gesang teilweise vom Tanz ab. Auch entsprach das zumindest textlich traurige Thema vom Ende des Lebens vielleicht nicht der Ablenkung, die man sich angesichts zunehmender Coronazahlen vielleicht gewünscht hätte.
Getanzt wurde von Edvin Revazov, Silvia Azzoni, Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Yaiza Coll, Xue Lin und Anna Laudere aber sehr eindrücklich. Der Beifall war entsprechend lang und mit Jubel untermischt. Im Übrigen fiel diesmal auf, dass der größere Teil des Publikums die Masken während der Vorstellung aufbehielt, was das Corona-Ansteckungsrisiko weiter minderte, neben den größeren Abständen mit Nichtbesetzung der beiden Plätze jeweils links und rechts sowie der vor und hinter einem befindlichen Reihen.
Ralf Wegner, 23. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Ghost Light, Hamburg Ballett, John Neumeier, B-Premiere am 9. September 2020, Staatsoper Hamburg