Zwei Russen erklingen für die Ukraine

BENEFIZKONZERT FÜR DIE UKRAINE,  Elbphilharmonie, 11. April 2022

Foto: © Daniel Dittus

Elbphilharmonie, 11. April 2022

BENEFIZKONZERT FÜR DIE UKRAINE
mit dem Elbphilharmonie Publikumsorchester

Michael Petermann Dirigent
Gerd Mühlheußer Klavier

Bericht vom ersten Benefizkonzert für die Ukraine in der Elbphilharmonie

von Jolanta Łada-Zielke

Manche nennen die Elbphilharmonie „Hamburger Montsalvat“, wo man Musik wie den heiligen Gral verehrt. In den fünf Jahren ihres Bestehens sind viele weltberühmte Künstler in den beiden Konzertsälen aufgetreten, aber diese Institution ist gar nicht elitär. Von Anfang an führt man dort auch einige Projekte für Laienmusiker durch, wie zum Beispiel das Elbphilharmonie Publikumsorchester unter der Leitung von Michael Petermann, Direktor des Konservatoriums Hamburg. Dieses Symphonieorchester mit fast 80 Mitgliedern trat im ersten der drei Benefizkonzerte für die Ukraine am 11. April 2022 auf.

Ein Zeichen der Solidarität mit der kämpfenden Ukraine sind das blau-gelb gefärbte Logo der Elphie und die an die Wände des großen Konzertsaals projizierten Scheinwerfer. Einige Zuschauer haben ihre Kleidung mit Banden dieser Farben geschmückt, andere tragen gelbe Pullis zu den Blue Jeans. Manche Damen erscheinen in  „Bишиванкi“ (Wischiwanki) – traditionellen ukrainischen, handbestickten Blusen. Die überwiegende Mehrheit des Publikums ist mit Konzerten klassischer Musik nicht vertraut und applaudiert zwischen den Sätzen der mehrteiligen Werke. Nur bei dem Strawinsky-Konzert lässt sich der Dirigent nicht unterbrechen und beginnt das abschließende Allegro attacca.

Das Konzertprogramm ruft zunächst meine Zweifel auf. Derzeit gibt es eine Tendenz, russische Komponisten zugunsten ukrainischer aus dem Repertoire zu streichen, was in diesem Fall gerechtfertigt wäre. Hier tauchen neben Anton Webern und Edgar Varèse noch Igor Strawinsky und Pjotr ​​Iljitsch Tschaikowsky auf. Dies ist jedoch keine zufällige Zusammenstellung. Strawinsky spielt wie Webern in seinem Werk auf Bach an, und Tschaikowsky bezieht sich auf Mozart. Musik hat längst einen globalen Charakter, in ihr findet ein ständiger Austausch und gegenseitige Inspiration statt. So geht es an diesem Abend ohne unnötige Dämonisierung der russischen Musik, die Besucher sind beeindruckt und sogar gerührt. Übrigens erscheinen die Werke ukrainischer Komponisten in nachfolgenden Konzerten.

(c) Daniel Dittus

Jedes Werk benötigt eine andere Anzahl von Musikern, sodass vier verschiedene Besetzungen die große Bühne der Elbphilharmonie betreten. Und obwohl das erste Stück, Bachs „Fuga Ricercata” von 1747 in einer Orchesterbearbeitung von Webern, an manchen Stellen unsicher klingt, liegt das Ensemble nach und nach los und gewinnt an Schwung. Es ist Michael Petermann zu verdanken, der nicht nur mit dem Taktstock, sondern mit dem ganzen Körper manövriert und den Instrumentalisten suggestiv zeigt, was an welcher Stelle zu tun ist. Die große Überraschung ist der Auftritt des Pianisten Gerd Mühlheusser, der den Solopart in Strawinskys „Konzert für Klavier und Blechblaseninstrumente” übernimmt. Von meinem Platz aus kann ich seine Hände mit schlanken Fingern sehen, die sich mit Leichtigkeit, Präzision und Schwung über die Tastatur bewegen. Ich sehe zu und wundere mich, dass dieser Mann mit echten Händen eines Pianisten, hauptberuflich Professor für Volkswirtschaft an der Universität Hamburg ist…

Nach der Pause serviert uns ein Schlagzeugensemble des Orchesters ein Extragericht, nämlich Varèses „Ionisation“. Ich kannte das von der Musikschule, weil es zu den Pflichtstücken gehört, die wir beim Test vom Hören erkennen sollten. Damals habe ich in meinem Schulheft notiert, dass dieses Stück „für einen Vampirball geeignet“ sei. Aber an diesem Aprilabend in der Elbphilharmonie höre ich es mir an in dem Wissen, dass es vielleicht keine Molekularbewegung ist, sondern Kriegsgeräusche, etwa eine Alarmsirene. In diesem Werk herrscht eine unruhige, angespannte Erwartung, verstärkt durch die Klaviercluster. Ich bemerke, dass ein 11-jähriger Junge, der sich vorher etwas gelangweilt hat, jetzt ruhig sitzt und die Musiker anstarrt.

Nach dieser Dosis des Futurismus begeben wir uns zur Romantik mit der „Serenade in C-Dur für Streichorchester“ Op. 48 von Pjotr ​​Tschaikowsky. Das Orchester führt das Werk erstklassig auf, mit allen möglichen dynamischen Schattierungen; mal melancholisch und lyrisch, dann wieder dramatisch oder mit tänzerischen Motiven. Auch das Pizzicato klingt sehr präzise.

(c) Daniel Dittus

Ein starker und bewegender Schlussakzent war der Auftritt des ebenfalls in der Elbphilharmonie agierenden „Chor zur Welt“, der unter der Leitung des Dirigenten und Sängers Jörg Mall probt. Der Chor besteht aus etwa 60 Sängern aus sechzehn verschiedenen Kulturkreisen, hauptsächlich aus Europa und dem Nahen Osten. Dieses Ensemble singt zuerst eine Strophe der ukrainischen Nationalhymne und dann gemeinsam mit dem Publikum das Lied „Die Gedanken sind frei“. Während des ganzen Abends habe ich nicht den Eindruck, dass Laien auf der Bühne musizieren, und ich frage mich, wie es wäre, wenn man das erst am Ende des Konzerts erfahren hätte. In einem Moment behauptet ein Zuschauer nebenan: „Schade, dass sie keine Profis sind”. Ich hake nach, wo genau er den Unterschied zwischen Profis und Laien sehe, und kriege keine Antwort.

Der Generalintendant der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle Christoph Lieben-Seutter hat in seinem Grußwort betont, dass die Ukrainer derzeit nicht nur für sich, sondern auch für uns kämpfen. Er hat uns auf diesen  Aspekt des Krieges aufmerksam gemacht, dass die Menschen einig und hilfsbereit geworden sind. Ich freue mich, dass die Künstler den Ukrainern  helfen, so gut sie können. Es spielt keine Rolle, ob das diejenigen sind, die von der Musik leben, oder diejenigen, die sie hobbymäßig machen. In diesem Fall ist es wichtig, nicht wer es tut, sondern wie. Eine gute Aufführung wird sich immer verteidigen.

Jolanta Łada-Zielke, 14. April 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Johann Sebastian Bach, Anton Webern
Fuga aus dem Musikalischen Opfer BWV 1079

Igor Strawinsky
Konzert für Klavier und Blasinstrumente

Edgard Varèse
Ionisation

Pjotr I. Tschaikowsky
Serenade C-Dur op. 48

 

Solidaritätskonzert, #StandWithUkraine Staatsoper Hamburg, Samstag, 12. März 2022, 19 Uhr, Großes Haus

Benefizkonzert für die Ukraine im Michel, St. Michaelis, 19. März 2022

Benefizkonzert Musikverein Wien, Großer Saal, 22. März 2022

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