Foto: Catherine Ashmore ©2019 ROH
Royal Opera House London, 21. November 2019
Benjamin Britten, Death in Venice
Libretto: Myfanwy Piper
von Charles E. Ritterband
Erstmals seit einem Vierteljahrhundert hat die Royal Opera Benjamin Brittens Oper zu Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig aus dem Jahr 1912 wieder auf die Bühne von Covent Garden gebracht – und dies mit einem überwältigenden Erfolg. Als Zuschauer fühlte man sich mitten in Luchino Viscontis filmisches Meisterwerk aus dem Jahr 1971 versetzt, nur noch um einiges gewaltiger, intensiver – und vor allem dreidimensional.
Der herausragende schottische Regisseur David McVicar hat mit seiner in vielen gemeinsamen Produktionen bewährten Bühnenbildnerin Vicky Mortimer Bilder geschaffen, die den Betrachter in die glanzvoll-dekadente aristokratische Welt des Hotel des Bains am Lido di Venezia mit seinem leuchtenden Strand – und in ein unromantisches, bedrohliches, von der Seuche gezeichnetes Venedig. Es sind eindrückliche, ja eindringliche Bilder, die den Zuschauer noch tagelang begleiten, ja verfolgen.
McVicar hat hier ein Gesamtkunstwerk geschaffen – Brittens zugegebenermaßen nicht für jedermann leicht zugängliche Musik (im Gegensatz etwa zu seinem „Midsummer Night’s Dream“, der kürzlich an der Wiener Staatsoper zu sehen war), die oft skurrilen Gesangsnummern, das fantastische Bühnenbild und vor allem die exzellente Choreographie (Lynne Page). Denn der polnische Jüngling Tadzio (Aschenbachs Objekt der Begierde und künstlerischen Idealisierung) wird vom ausgezeichneten englischen Tänzer Leo Dixon verkörpert, sein Freund (und Rivale) Apollo von seinem ebenso hervorragenden Landsmann Tim Mead.
Der Regisseur hält sich sehr genau an die filmische Vorlage – und das ist der große Reiz: Selten hat man einen Film so stimmig, so getreulich und vor allem mit so viel technischem Raffinement auf die Opernbühne transferiert gesehen wie hier. Da gibt es eine Original-Gondel, die auf Rollen so perfekt bewegt, gedreht und geschoben wird, als würde sie auf dem Wasser eines venezianischen Canale dahingleiten. Die gewaltigen, düsteren Marmorsäulen des Hotels gleiten langsam an der Gondel vorbei, so dass der perfekte Effekt entsteht, dass diese sich an den Bauten vorbei bewegt. Der gleißende Strand, das blau glitzernde Meer – das ist Kino-Realität vom Feinsten.
Der Hintergrund war meistens nachtschwarz – was den bedrohlichen Effekt zusätzlich verstärkte. Und die internationale aristokratische Gesellschaft in prachtvollen, authentischen d’Epoque-Kostümen scheint gleich Gespenstern aus einer längst vergangenen Epoche über die Bühne zu gleiten – einfach meisterhaft. Und ein wenig anachronistisch: Die Oper ist 1973 entstanden, in einer ganz anderen Zeit – der Film spielt in der Zeit, da Thomas Mann sein Werk verfasste, also kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Der englische Tenor Mark Padmore, der ununterbrochen auf der Bühne steht, hat einen Tour de Force zu Brittens schwieriger Musik zu leisten, seine Stimme blieb dennoch frisch und präzise bis zur letzten Note – und er wurde von einem kundigen Publikum an der Premiere entsprechend umjubelt. Der Chor (Leitung: William Spaulding) unterstützte die Handlung mit großer Präzision, das Orchester (Dirigent: Richard Farnes) spielte subtil und drängte sich nie in den Vordergrund.
Der kanadische Bassbariton Gerald Finley hatte viele gegensätzliche Rollen zu meistern – und entsprechend seine stimmlichen Möglichkeiten fast unglaublich auszuschöpfen: Vom servilen Hoteldirektor mit sonorer, tiefer Stimme zum ältlichen, schlecht blond gefärbten Strand-Casanova mit (natürlich beabsichtigt) unangenehm-aufdringlicher Falsett-Stimme auf dem Schiff, das Aschenbach nach Venedig fährt. Die von diesem unerwünschte Gondelfahrt zum Lido mit dem mysteriös-aufdringlichen Gondoliere wird zur Überfahrt über den Styx in die Unterwelt, in die Welt des Todes, der Aschenbach am Ende ereilt.
Britten hatte im September 1970 an Golo Mann, den Sohn von Thomas Mann, geschrieben, um seinen Segen für sein Projekt zu erhalten. Dieser antwortete postwendend: Er selbst und seine Mutter wären „entzückt“. Er erwähnte, dass sein Vater einmal gesagt habe, wenn es einen Komponisten gäbe, der geeignet wäre, seinen Doktor Faustus in Musik umzusetzen, so sei dies Benjamin Britten. Thomas Mann wäre zweifellos begeistert gewesen, diese Inszenierung seiner Novelle Der Tod in Venedig auf der Bühne von Covent Garden sehen zu dürfen.
Charles E. Ritterband, 27. November 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Richard Farnes
Inszenierung: David McVicar
Choreographie: Lynne Page
Bühne: Vicky Mortimer
Royal Opera Chorus, Leitung: William Spaulding
Gustav von Aschenbach: Mark Padmore
Hotel Manager etc. : Gerald Finley
Tadzio: Leo Dixon
Apollo: Tim Mead
Lady of the Pearls: Elizabeth McGorian
Leider ist Gerald Finley an der Wiener Staatsoper sehr selten zu Gast. Das letzte Mal war sein nobler Bariton im Frühjahr 2017 als Amfortas zu erleben.
Lothar Schweitzer