Theater Lübeck, 11. März 2022 PREMIERE
Benjamin Britten The Turn of the Screw
Kammeroper
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Takahiro Nagasaki musikalische Leitung
Stephen Lawless Inszenierung
Photos: Jochen Quast
von Dr. Andreas Ströbl
Wie einen schützenden Vorhang legt die verwundete Psyche sich oft einen dämmenden Filter zu, um Ängste und Verletzungen unter der Oberfläche zu halten. Es geht ums eigene Überleben, in der ständigen Furcht, dass der Vorhang sich öffnet und die Dämonen dahinter sichtbar und mächtig werden.
Ein Vorhang ist auch das erste, was in der Lübecker Produktion zu sehen ist. Er verbirgt das Bühnenbild zuerst, ist aber auch Teil davon. Die Assoziation mit dem Duschvorhang aus Hitchcocks „Psycho“ ist dabei gewollt, denn Regisseur Stephen Lawless hat bereits bei der in Lübeck üblichen „Kostprobe“, in der es ungefähr zwei Wochen vor der Premiere eine Einführung und anschließend eine öffentliche Szenenprobe gibt, auf die ästhetische Nähe seiner Inszenierung zu den Filmen des „Master of Horror“ verwiesen.
Dieser Vorhang enthüllt nie die ganze Wahrheit, sondern öffnet den Blick in ein beklemmendes Szenario, das von unbestimmten Ängsten, Gespenstern und verdrängten Traumata bestimmt wird. Diese diffuse und auch in der Darstellung schwer zugängliche Thematik erfordert einen hochsensiblen Zugang und eine künstlerische Umsetzung von höchstem Anspruch. Dem genügt die Lübecker Produktion in jeder Hinsicht, es ist eine erneute Glanzleistung dieses experimentierfreudigen Hauses.
Inhaltliche Vorlage von Brittens verstörender Oper ist eine Erzählung von Henry James, in der eine neue Gouvernante zwei Waisenkinder in einem abgelegenen Haus betreuen soll und dabei feststellt, dass die Geschwister Miles und Flora unter dem unheilvollen Einfluss zweier Gespenster stehen. Es sind die Geister des früheren Angestellten Peter Quint und seiner Geliebten, der ehemaligen Gouvernante Miss Jessel, die offenbar etwas mit den Kindern angestellt haben, was über den Tod der beiden hinaus auf unheimliche Weise wirkmächtig ist.
Zwar wird bei Brittens Verarbeitung mit dem Libretto von Myfanwy Piper deutlicher als bei James, dass es um eine Missbrauchsgeschichte geht, aber auch hier werden die Details nie offenbar. Außerdem wird nicht klar, was die neue Gouvernante zu erkennen glaubt und ob sie nicht selbst Opfer von Projektionen und Übertragungen ist. Das macht dieses Werk so bedrückend und gerade der psychologischen Ebene wird in dieser Inszenierung eine besondere Bedeutung zugemessen. Den Prolog trägt ein Psychiater vor, die Szene bestimmt ein steriler, hellblau gekachelter Raum in einer Nervenheilanstalt, in welche die junge Frau eingeliefert wurde. So baut sich die Handlung als analytisch begleiteter Rückblick auf. Das intelligent und tiefsinnig gestaltete Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann eröffnet immer wieder neue Ebenen, die denen des Bewussten und Unterbewussten entsprechen, weil es immer ein „Dahinter“ und „Hindurch“ gibt, aber nie eine Bettung in Geborgenheit. Im Gegenteil – die Schraube zieht sich immer fester in die Psyche und bei jeder Drehung werden die inneren Fluchtwege enger. Hintereinanderstehende Wände wirken wie Korridore in einem unpersönlichen „Shining“-Hotel und nicht wie die Schutzwälle eines echten Zuhauses.
Die Betten, in denen zu Beginn die Gouvernante, zwischenzeitlich Mrs. Grose und die Kinder keinen erholsamen Schlaf finden, sind gleichförmige weiße Klinikbetten, in denen sie die alten Ängste heimsuchen.
Wolfgang Schwaninger obliegt die Herausforderung, den ruhig-sachlichen Psychiater ebenso wie den Geist des verbrecherischen Quint, der Miles in seinen Träumen heimsucht und manipuliert, zu geben, was er absolut überzeugend meistert. Seine ihm in Gesang und Darstellung ebenbürtige Komplizin Miss Jessel ist Sabina Martin, die das gleiche blaue Kostüm wie die Gouvernante trägt – ein subtiler Einfall Schlößmanns, der auch die Kostüme entworfen hat. Damit wird deutlich, wie die gutwillige, aber letztlich hilflose Gouvernante in das Geschehen hineingeschraubt wird und letztlich das dramatische Ende mit herbeiführt. Die Haushälterin Mrs. Grose ist nur bedingt eine Hilfe, weil auch sie entweder etwas verdrängt oder verschweigt. Wioletta Hebrowska singt und spielt diese zugleich überforderte und gutmütige Frau in jeder ihrer Facetten bewundernswert vielfältig.
Gerade im ersten Akt verlangt die Partitur den Frauenstimmen in den Höhen einiges ab. Evmorfia Metaxaki in der Hauptrolle kennt das Lübecker Publikum seit Jahren als bewährte, ungemein wandlungsfähige Sängerin, aber so, wie sie die anteilnehmende, liebenswerte und letztlich scheiternde Gouvernante gibt, hat man sie noch nicht gehört und gesehen. Bei ihr und allen anderen Mitwirkenden treffen großartige gesangliche Leistungen mit einer durchdachten Personen- und Bewegungsregie zusammen.
Besonders schwierig ist es, psychisch beschädigte Kinder zu spielen. Nataliya Bogdanova gibt eine Flora, hinter deren biestigem Lächeln die Abgründe erst nach und nach zu erahnen sind und Nichtkenner des Ensembles hätten tatsächlich vermuten können, dass die Sängerin nicht älter als 15 Jahre ist. Die schlimmsten Verletzungen allerdings hat ihr jüngerer Bruder Miles davongetragen und was Jakob Geppert, der Solist des Knabenchores/der Chorakademie Dortmund, abliefert, ist sensationell. Von verspielter Bubenhaftigkeit über tiefe Irritation durch die alten Gespenster bis zum völligen Zusammenbruch beherrscht dieser Junge den Gesang und die Darstellung in höchster Eindringlichkeit.
Irrlichternd versuchen die Frauen und die Kinder, gleichsam in der Dunkelheit der eigenen Seele und durch die „Nebelwände des Bösen“, sich mit Taschenlampen zu orientieren. Auf Sekundenbruchteile genau abgestimmt sind Lichtregie und Orchester, denn beim Aufblinken der Lampen ertönt jeweils das Glockenspiel. Dieses Instrument verleiht zusammen mit dem Schlagwerk, der Harfe und dem Klavier der Musik eine dem Inhalt entsprechende Vielschichtigkeit, die ausgefeilte Instrumentierung lässt die „nur“ kammermusikalische Größe des Orchesters vergessen. Die Lübecker Philharmoniker unter Takahiro Nagasaki lassen die bösen Blumen der düsteren Klänge erblühen; er und die Musikerinnen und Musiker machen das Gesamtkunstwerk dieser Oper großartig erlebbar, weil hier Ton und Text ineinandergreifen, einander verstärken und auf den unterschiedlichen Ebenen ergänzen.
Bereits bei der Kostprobe hat Nagasaki auf die Zwölftontechnik in diesem Werk hingewiesen, weil Britten immer wieder ein Thema aus eben zwölf Tönen variiert und zu Melodien ausarbeitet. Das alles ist aber weitab vom Dissonanten oder Atonalen, vielmehr hat der Komponist auf die Wagner´sche Leitmotivik zurückgegriffen und zitiert sogar das Unmut-Motiv aus der „Walküre“ beim Auftreten des Geistes von Quint.
Diese tiefgründigen Einfälle hat Lawless kongenial inszenatorisch mit Bildern und Zitaten erweitert. Nur als Beispiel sei die auf den ersten Blick harmlose Lateinstunde erwähnt, wo auf der Tafel IN BELLO VERITAS PRIMA MORITUR mit Kreide geschrieben ist. Dass im Krieg die Wahrheit zuerst stirbt, hat derzeit eine gespenstische Aktualität.
Organisch und wie zur Handlung gehörig wirken die Umbauten, denn Kulissen und Requisiten werden durch wie Hausbediente gekleidete Statisten gebracht und verschoben.
Nicht nur die Wahrheit darf nicht leben, auch das schwächste Glied dieser Kette von miteinander durch das Unaussprechliche verbundenen Menschen geht zugrunde. Dem mehrfach ausgesprochenen Satz „Überall wird die Zeremonie der Unschuld ertränkt“ folgt unausweichlich der Tod des Jungen Miles durch die Schuld derer, die seine Verletzlichkeit ausgenutzt haben. Er bricht tot zusammen, als die Gouvernante ihn mit der Forderung nach der Aussage zum Hintergrund seiner offensichtlichen Störung bedrängt. Der Name des Peinigers ist für das Kind so mächtig, dass es sein bloßes Aussprechen umbringt.
Bereits Goethe hatte das in seinem „Erlkönig“ verklausuliert thematisiert; auch in diesem Gedicht tötet die blanke Angst ein missbrauchtes Kind und der entsetzte Vater kann ihm nicht mehr helfen. Die Messdiener-Kostüme der Kinder nach dem Sonntagsgottesdienst zu Beginn des zweiten Aktes stellen einen weiteren aktuellen Bezug zu den Missbrauchsskandalen in der katholischen Kirche her. Viele Opfer schwiegen jahrzehntelang entweder aus Scham oder weil sie selbst glaubten, böse zu sein, wie es Miles immer wieder in seinem „Malo“-Lied bekennt. „Malus“, also böse ist jemand anderes und zwar mit solcher Macht, dass er auch noch als pure Vorstellung sein zerstörerisches Werk fortsetzt.
Kein leichter Stoff, keine einfache Musik. Und so schaffte der aufbrandende, langanhaltende Applaus eines begeisterten Publikums sicher Erleichterung, würdigte aber enthusiastisch eine künstlerische Gesamtleistung von herausragender Qualität.
Die nächsten drei Aufführungstermine sind am 16. März, 1. und 10. April.
Dr. Andreas Ströbl, 13. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
5. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongresshalle Lübeck, 7. Februar 2022