Foto: Bergen Philharmonic Orchestra © Daniel Dittus
Elbphilharmonie, Großer Saal, 22. August 2018
Elbphilharmonie Sommer 2018
Bergen Philharmonic Orchestra
Solist: Leif Ove Andsnes, Klavier
Dirigent: Edward Gardner
Richard Wagner: Ouvertüre zu “Der fliegende Holländer”
Benjamin Britten: Klavierkonzert op. 13
Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Aus dem hohen Norden eingeflogen kamen 101 Musiker oder besser gesagt MusikerInnen des Bergen Philharmonic Orchestra zu uns nach Hamburg. Die Gentrifizierung war in diesem Falle zwingend notwendig: In Norwegen hat der konservative Wirtschaftsminister Ansgar Gabrielsen 2006 ein Gesetz durchs Parlament gepeitscht, das auch die Privatunternehmen zwingt, 40 Prozent der Aufsichtsratsposten mit Frauen zu besetzen.
Somit ist der Konzertmeister des Bergen Philharmonic Orchestra eine Konzertmeisterin (eine umwerfende feurige Melina Mandozzi, die einen extra Applaus bekam, weil alle dachten, mich eingeschlossen, dass sie eine Solistin ist), und beinahe die Hälfte der Musiker Frauen, davon mehrere echte Blondinen, leuchtend wie goldene Trompeten.
Das Programm in der Elbphilharmonie war nicht wirklich klug gewählt. Kein Mensch zwingt Skandinavier, Sibelius zu spielen. Vor allem nicht, wenn man über so viele Klangfarben verfügt wie dieses Ensemble. Das ewige Fortissimo des Finnen raubte vielen Zuhörern den letzten Nerv. Man kann sich nicht auf dem Fortissimo ausruhen. Wahrhaftig nicht.
Die Ouvertüre zu “Der fliegende Holländer” ist an mir irgendwie abgeperlt. Die Anwesenheit eines berühmten Musikrezensenten, der sich eifrig Notizen machte, hat mich ein bisschen aus dem Takt gebracht. Vielleicht war ich deshalb nicht so konzentriert … Also Wagner halbwegs verpasst, weil ich die ganze Zeit überlegte, wie man die zigste Aufführung des “Holländers” verfolgen kann und soll. Jeder Beruf hat halt seine Tücken.
Das Konzert für Klavier und Orchester von Benjamin Britten entschädigte für alles. Da kann man nix notieren. Da kann man nur staunen, wie aus diesem braven, harmonisch musizierenden Ensemble im Handumdrehen Revoluzzer wurden: Kaum setzte sich Leif Ove Andsnes ans Klavier, liefen schon die Glissandi. Dazu, besser gesagt dagegen, hielt der Rest des Orchesters: Mal redeten die Flöten dazwischen, mal opponierten die Oboen, mal maulten pizzicato die Kontrabässe. Benjamin Britten schrieb dieses Werk 1938, hat es jedoch 1945 überarbeitet. Somit fand der Krieg Einzug in das Konzert. Britten war ein bekennender Pazifist. Wie ehrlich diese Überarbeitung…
Ich war auch begeistert von der Ähnlichkeit seiner Musik zu Schostakowitsch und Szymanowski. Gleichzeitig hat mich die ungewöhnliche Paarung von Blasinstrumenten und Klavier sehr eingenommen. Der Solist (oder der Dirigent?) gaben ein atemberaubendes Tempo vor – das Orchester folgte mit Genuss.
Am Ende des vierten Satzes gingen vier ohrenbetäubende Peitschenhiebe auf uns nieder. Es handelte sich um zwei Holzlatten, die von einem Perkussionisten aneinander geschlagen werden. Wer nicht eingenickt war oder gerade eine SMS absonderte (rechts von mir tat es ein Herr, seine Frau tauchte aus Scham förmlich unter), den hob es aus den Sitzen. Ich bitte Sie, verehrte Blogleser, um fachkundige Hilfe: wie heißt diese Art Krachmacher? Britten müsste das “Instrument” irgendwie genannt haben. Der versierte Musikjournalist neben mir, der auf Anfrage sehr freundlich das Prinzip des Holzlattenschlagens erklärte, wusste den Namen auch nicht.
Der Solist Leif Ove Andsnes wurde für sein rasantes, diszipliniertes, halsbrecherisch schwieriges Zusammenwirken mit den einzelnen Instrumenten mit heftigem Applaus bedacht. Wenn man Britten selten bis nie hört – und wir hatten sehr viele Jack-Wolfskin-Touristen im Publikum – ist diese Anerkennung doppelt soviel wert, wie bei erlesenem Kenner-Publikum. Ohne groß zu überlegen, spielte er eine kleine, aber feine “Romanza” von Jean Sibelius als Zugabe. Man freute sich somit auf diesen finnischen Komponisten nach der Pause.
Die Programme waren kostenlos. Fleißige Helfer der Elbphilharmonie präsentieren sich sehr vorteilhaft in ihren neuen Uniformen: rot-weiß gestreiftes T-Shirt, schwarzes Frack-Ensemble mit knallrotem Futter. Es steht Dicken und Dünnen, Großen und Kleinen, Frauen und Männern gleich gut. Das Publikum sommerlich bunt bekleidet – viele weiße Hosen, interessant gemusterte Kleider und ein atemberaubender Hauch von Schal zu einem einfachem Etui-Kleid in gebrochenem Bordeaux. Die Dame schwebte in diesem Wolkentraum in Terrakota durch die Reihen. Dabei war sie schon von Haus aus sehr schlank.
Sibelius mit seiner Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43, die er in einer Schaffenskrise schrieb, enttäuschte. Jedenfalls im Großen Saal, beim ersten Besuch eines großen, selbstbewussten Orchesters. Es war nur durchgehender Krach zu hören; das kann auch langweilig sein. Es fühlte sich so an, als ob Edward Gardner das Maß seines Dirigats falsch eingeschätzt hatte. Wie schon gesagt, auch der lauteste Krach kann langweilen und ist irgendwann nicht mehr steigerungsfähig. Trotzdem herzlicher Endapplaus.
22.15 Uhr. Eigentlich müsste jetzt Schluss, Feierabend sein. Gegenüber dem Dirigenten sitzt aber im Publikum eine Gruppe frenetisch klatschender Norweger. Zugereiste und Hiesige – die norwegische Kolonie ist klein aber sehr selbstbewusst und sendet alle möglichen Signale an den Gardner, und er erhört sie: Es folgt “Ases Tod” aus der Peer-Gynt–Suite von Edvard Grieg.Und da hatten wir es wieder: Alles ist auf einmal gut. Die Musik fliest wie Honig, unaufdringlich, fast nur piano, schön traurig – traurig schön. Die Akustik des Großen Saals kommt jetzt voll zum Tragen, das Orchester spürt unsere Begeisterung, eine Brücke zwischen den Musikern und uns entsteht; die ist nicht golden, sie trägt Sommerfarben…
Standing Ovations. Kluge Wahl von Ed Gardner. Er spürte ja, wie undankbar der Sibelius in der Lautstärke klang und griff in den Zauberkasten des norwegischen Mozarts. Der aus Bergen stammende Grieg, von 1880 bis 1882 selbst Dirigent des Bergen Filharmoniske Orkester (so heißen die Herrschaften auf Norwegisch), war das Beste an diesem Abend.
Noch zwei Verbeugungen und Schluss? Pustekuchen! Das Orchester, bei schon abgeschaltetem Oberlicht, lag sich auf einmal in den Armen. Jede/r bedankte sich bei jedem mit Küsschen auf die Wangen und einer Umarmung. Mir wurde warm ums Herz. Hiesige NorwegerInnen stürmten den Konzert-Raum. Wenn Ihnen wieder jemand etwas von unterkühlten Skandinaviern erzählt…
Teresa Grodzinska, 25. August 2018, für
klassik-begeistert.de
die „norwegerkolonie“ in der ersten reihe, das waren deutsche fans des landes, die sich eine große flagge über mehrere schöße gebreitet hatten.
das instrument, welches wie eine peitsche klingt, indem zwei latten aneinandergeschlagen werden, heisst in partituren vieler komponisten einfach peitsche.
die „kapellmeisterin“ ist eigentlich konzertmeisterin, und dass sie, zuletzt auftretend, mit applaus bedacht wird, ist durchaus üblich.
ja, jeder beruf hat seine tücken.
fritz pahlmann
Super, dass sich jemand meldet.
Danke für den Hinweis mit der Peitsche. Hab ich doch richtig eingeschätzt, den Klang. Es gibt nämlich eine ähnliche Einrichtung in der ZEN-Meditation. Man schlägt zwei Holzlatten rhythmisch und immer schneller aneinander. Zu Zeiten von Britten war der ZEN-Buddhismus in den Klauen der japanischen Soldateska – für einen Pazifisten wie Britten es war, war eine Anleihe bei den Kriegsgegnern eher unwahrscheinlich, oder? Peitsche. Danke nochmal.
Norwegen: Ich meinte nicht die erste Reihe, werter Herr Pahlmann; ich meinte das mir gegenübersitzende Nest von mindestens 100 Menschen in mehreren Reihen. Die Fahne ist mir entgangen oder sie lag auf anderen Schößen (schön, wie sie es beschreiben – war Ihr Schoß auch beteiligt?). Das Große Saal ist wahrhaftig groß. Tücken überall…
Mit dem Kommentar zu der feurigen Konzertmeisterin sind Sie uneingeschränkt im Recht! Mein Fokus lag auf dem Feminismus und der feurigen Erscheinung.
Bis zum nächsten Mal empfiehlt sich
Teresa Grodzinska