Foto: Dirigent Antonello Manacorda, © Nikolaj Lund
Berliner Philharmoniker
Antonello Manacorda Dirigent
Christian Gerhaher, Bariton
Beethoven, Coriolan-Ouvertüre
Mahler: Fünf Lieder nach Gedichten von Friedrich Rückert
Schönberg: Kammersymphonie Nr.2 op.38
Schubert: Symphonie Nr. 7 h-moll, „Unvollendete“
Philharmonie Berlin, 6. Mai 2022
von Kirsten Liese
Als Konzertmeister beim Gustav Mahler Jugendorchester unter Claudio Abbado startete er 1994 seine musikalische Laufbahn, mittlerweile hat sich Antonello Manacorda, geboren 1970 in Turin, als Dirigent einen Namen gemacht. Nach erfolgreichen Opernproduktionen bei den Salzburger Festspielen, an der New Yorker Met und an der Bayerischen Staatsoper hat der aus einer italienisch-französischen Familie stammende Künstler nun sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern gegeben.
Indem, wie er das Dramatische in der Musik mit klanglichen Schärfen, kraftvollen Attacken und einem unruhigen Vorwärtsdrängen exponiert, erinnert mich Manacorda an den legendären Nikolaus Harnoncourt. Das Verstörende, Aufrührerische in der Musik hat er sich auf die Fahnen geschrieben. Und dieser unbändige Gestaltungswille beeindruckt, auch wenn mit ihm die Pferde in der Coriolan-Ouvertüre ein wenig durchgehen.
Wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich den Abend vor allem wegen Christian Gerhaher erleben wollen. Mit der ihm eigenen Versonnenheit, Seelenruhe und Abgeklärtheit sang er die fünf Rückert-Lieder von Gustav Mahler. Im ersten „Blicke mir nicht in die Lieder“ ist von seiner Stimme noch wenig zu hören, der Text kaum zu verstehen. Das Orchester deckt ihn auch ein wenig zu.
Aber der Eindruck ändert sich schlagartig ab dem zweiten Lied „Ich atmet’ einen linden Duft“, in dem Gerhaher im wunderbar versponnenen Dialog mit Albrecht Mayers Solo-Oboe als kontemplativer Poet zum Zuge kommt.
In dem dritten Titel, „Um Mitternacht“, um unruhige Seelenzustände zwischen Resignation und Hoffnung, Schmerz und Rebellion sowie Leben und Tod, läuft Gerhaher zur Hochform auf, da erblüht sein Bariton im denkbar schönsten Wohllaut in aller Größe, versteht man jedes Wort und meint, hier und da seitens der Diktion seinen berühmten Lehrmeister Fischer-Dieskau durchzuhören. Und weiß wieder, warum dieser Mann eine so große Reputation als Liedinterpret genießt!
Am tiefsten ins Herz geht freilich das Lied, das zu den schönsten und berührendsten überhaupt zählt: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Im Dialog mit Dominik Wollenwebers Englischhorn trägt Gerhaher es versonnen in feinsten Pianoschattierungen vor, gerade so, als kämen ihm die Verse im Moment in den Sinn. Lang habe ich dieses Lied von einer Männerstimme nicht so berührend gehört. Und vermutlich kann das derzeit keiner besser.
Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich mir nach der Pause eine Sinfonie von Gustav Mahler oder ein anderes gewichtiges sinfonisches Werk der Spätromantik gewünscht. Bei anderen europäischen Spitzenorchestern wie den Wiener Philharmonikern oder der Sächsischen Staatskapelle Dresden stehen solche Programme noch in Tradition, bei den Berliner Philharmonikern zu meinem Leidweisen in jüngerer Zeit seltener zugunsten kleinteiliger Programme, gespickt mit allerhand Entbehrlichem.
Gewiss spricht für die Stückauswahl des Abends, dass Manacorda viel Beachtung für seine Schubert-Einstudierungen mit der Kammerakademie Potsdam fand, und man ihn vermutlich auch deshalb mit einem Schubert präsentieren wollte. Aber hätte man dann nicht eine längere Sinfonie des Komponisten ansetzen können, die große C-Dur zum Beispiel?
Mit der zweiten Kammersymphonie von Arnold Schönberg folgte jedenfalls ein sehr sprödes, sperriges Werk, das für mich erst seine Reize offenbarte, als die Kontrabässe mit düsteren- geheimnisvollen Soli zum Einsatz kamen. Aber da war sie schon am Ende angekommen.
Neben den viel beschäftigten, von Ludwig Quandt engagiert angeführten Violoncelli kam in Schuberts h-moll-Sinfonie immerhin noch einmal Albrecht Mayer mit herrlichsten Oboen-Soli zum Einsatz, auch die Streicher betörten in den lyrischen Themen mit dem denkbar zärtlichsten, warmen Ton. Und Antonello Manacorda, der Debütant und gefragte Schubert-Interpret, ließ einen hier noch einmal ordentlich zusammenzucken in jenem Moment, in dem die Musik von der lieblichen Seligkeit plötzlich und radikal in tiefste Abgründe führt.
Großer Beifall.
Kirsten Liese, 7. Mai, 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Christian Gerhaher, Bariton Wigmore Hall, London, 29. September 2021
Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, Europakonzert, Philharmonie Berlin, 29. April 2022