Camilla Nylund und Christian Thielemann verzaubern die Philharmonie mit einer Reise durch die Spätromantik. Zwei Stunden wird die Seele gereinigt, man verlässt die Philharmonie, als würde man aus den süßesten aller Träumen erwachen. Es gibt Kunst, und es gibt Thielemanns Kunst.
Berliner Philharmoniker
Camilla Nylund, Sopran
Christian Thielemann, Dirigent
Werke von Richard Wagner, Richard Strauss, Hans Pfitzner und Johann Sebastian Bach
Berliner Philharmonie, 17. Dezember 2022
von Johannes Karl Fischer
Kopfgeschüttel, böse Blicke und deutliche Zurechtweisungen mit der linken Hand. Kommen nicht etwa von skeptischen KritikerInnen im Saal, sondern vom Pult. Thielemann mal wieder at his best. Perfektionist und Polarisierer ist er, der Göttervater der Wagner-Welt. Schon die ersten Klänge des Parsifal-Vorspiels waren reiner, klarer Klangzauber. Für den Chef am Pult nicht gut genug: Die Violinen sind ihm einen Hauch zu laut, sofort protestiert ein ängstlicher Handausdruck in schreiender Stille. Ein Abend mit Thielemann ist immer ein Abend der Perfektion.
In diesem Parsifal-Vorspiel, in seinen Choralartigen Posaunenklängen, möchte man baden gehen. Viel lieber als in einem idyllischen Tropenparadies. Reichlich süße Früchte, Kokosnüsse und Papayas auf Bäumen wachsend schmücken den Gral. Blaues Meer, soweit das Auge reicht. Solche Szenen malen, das kann nur Wagner. Und auch nicht ohne Thielemann.
Aus Karfreitagszauber wird warmer Weihnachtszauber. Und der scheint auch endlich den ehemaligen Bayreuth-Chef zufrieden zu stellen. Schwärmerische Geigenklänge fließen durch den Saal, reinigen die Seele eines jenes Zuschauers. „Du siehst, das ist nicht so“, klingt lautlos im Gehör nach. Vorausgesetzt, dass man die fünfstündige Opernfassung dieser Musik im Ohr hat.
Bestens passend dazu die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Eine halbe Stunde lang darf sich das Publikum von Camilla Nylunds göttlichen Sopran verzaubern, in eine andere Welt verführen lassen. Erst wurde die Seele gereinigt, jetzt wird sie wortwörtlich besungen. Vielleicht in einer zurückgezogenen Hütte auf einer Engadiner Alm, ein idyllischer Rückzug aus dem Wahn des Alltags. Dort, wo der Komponist zwei dieser vier Lieder vollendete. Solch weicher, gänzlich lyrischer Gesang ist das Sahnehäubchen, was dem Parsifal-Vorspiel zur Vollkommenheit fehlte. Vollendet ist die ewige Beseelung.
Die Reise durch die Spätromantik geht weiter mit Hans Pfitzners drei Palestrina-Vorspielen. Bevor ich mich zur Musik äußere: Es ist eine unschöne Tatsache, dass weder im Programmheft noch in der Einführung ein einziges Wort zu Pfitzners Nazi-Vergangenheit fällt. Ja, Petrenko – selbst jüdischer Herkunft – hat diese Vorspiele in diesem Saal schon dirigiert. Ich bin der Meinung, man darf dieser Musik eine Chance geben, sonst würde ich diese Worte nicht zu Papier bringen. Aber es braucht viel mehr kritische Diskussionen um einen Komponisten, dessen Verhältnis zum NS-Regime weit umstrittener ist als jenes von Richard Wagner.
So viel dazu, nun soll’s wieder der Kunst gelten. Nach einer ruhigen, einsamen ersten Einleitung samt vorbarocker Färbungen geht’s im zweiten Satz zur Sache: Die wütende Diskussion des Trienter Konzils wird in Musik gesetzt. Musikalisch wird das letzte Vorspiel zum Höhepunkt, hier malt die Musik mit der vollen Palette des kompositorischen Farbenspektrums. Warme Klarinettensoli und mitreißende Geigengesänge: Ein Strudel an allumschlingenden Klängen saugt durch die Ränge. Wie Meistersinger und Parsifal – zwei der wohl spektakulärsten Kunstwerke der Menschheit – in einem.
Wagner, Strauss, Pfitzner: Mit diesem Programm serviert Thielemann mindestens fünf musikalische Marillenknödel und drei Gläser Zweigelt. Zeit, um etwas runterzukommen, nur wie? Richtig, mit einem Bach-Präludium in der Orchestrierung von Arnold Schönberg. Magnifique, großartig, trotzdem – anders als der Parsifal – nicht überfordernd. Ganz im Gegenteil: Man verlässt die Philharmonie in die bitterkalte Dezembernacht wie ausgeschlafen nach einer Nacht mit den süßesten aller Träumen.
Vor zwei Monaten schrieb ich zu einer Hamburger Aufführung der Vier letzten Lieder: „Kriegt die Star-Besetzung um Camilla Nylund und Christian Thielemann das im Dezember besser hin?“ Ja, und wie! Sarah Wegener war prima, Camilla Nylund eine Gesangs-Göttin. Daishin Kashimotos zartes Violinsolo hätte sich genauso gut mit den Worten „in der richtigen Weise“ aus dem Rosenkavalier-Schlussterzett mischen können…
Bei allen Diskussionen um den wohl kontroversesten Dirigenten der Klassik-Welt: Jedes Haus sollte sich darum prügeln, ihn zum Chef verpflichten zu dürfen. Es gibt Kunst, und es gibt Thielemanns Kunst. Ein anderes Niveau.
Johannes Karl Fischer, 18. Dezember 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at