Klaus Mäkelä debütiert bei den Berliner Philharmonikern

Berliner Philharmoniker, Klaus Mäkelä, Dirigent, Schostakowitsch und Tschaikowsky  Philharmonie Berlin, 22. April 2023

Royal Concertgebouw Orchestra Foto: Marco Borggreve

Ein triumphaler Abend mit russischer h-Moll-Sinfonik.

Philharmonie Berlin, 22. April 2023

Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Sinfonie Nr. 6 op. 54

Pjotr Tschaikowsky (1840-1893) – Sinfonie Nr. 6 op. 74 („Pathétique“)

Berliner Philharmoniker
Klaus Mäkelä, Dirigent

 von Brian Cooper, Bonn

Streng genommen ist es kein Debüt mehr an diesem Samstag, denn bereits zwei Tage zuvor hatte Klaus Mäkelä dieses hinreißende Programm dirigiert. Ebenso am Freitag: zwei russische sechste Sinfonien in h-Moll, die eine sattsam bekannt (Tschaikowsky), die andere beileibe nicht oft genug gespielt (Schostakowitsch). Denn sie ist phänomenal – zumal, wenn sie so aufgeführt wird wie nun in Berlin.

Da ich dasselbe Programm unter demselben Dirigenten mit meinem anderen Lieblingsorchester, dem Amsterdamer Concertgebouworkest, im November 2021 in Hamburg verpasst hatte, schätzte ich mich überaus glücklich, diesen herrlich sonnigen Samstag in Berlin verbringen zu dürfen. Der Livestream aus Hamburg bleibt in besonderer Erinnerung; in Berlin wurde es ebenfalls ein ganz großer Abend.

Klaus Mäkelä muss längst nicht mehr vorgestellt werden. Wie alle sehr jungen Talente muss auch der 27jährige viel negative Kritik ertragen, die zum Teil einfach nur gemein ist. Manche nehmen den Nachnamen offenbar wörtlich und mäkeln, dass sich die Balken biegen. Allerdings überwiegen die hymnischen Lobpreisungen, und auch ich bin bisher beeindruckt bis hingerissen von den etwa zehn Konzerten, die ich mit ihm erlebt habe.

Ähnlich wie Lahav Shani, den ich am Folgeabend in Dortmund am Klavier erlebe, ist Mäkelä nicht nur Dirigent, sondern beherrscht auch meisterlich ein Instrument – in seinem Fall das Cello.

Schostakowitschs Sechste, im November 1939, also kurz nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs, unter Jewgeni Mrawinski in Leningrad uraufgeführt, beginnt mit einem langen Largo, das ein einziges Wehklagen in Töne zu fassen scheint. Es ist ein zwanzigminütiges Leiden sondergleichen. Unter Mäkelä wird es schrill, sobald es laut wird, und genau so soll es sein: Es muss schmerzen. Obertöne kratzen am Trommelfell. Gewalttätig ist diese Welt, nicht nur jene des Dmitri Dmitrijewitsch. Der ausverkaufte Saal steht unter Strom, der Klang des Orchesters elektrisiert von Anbeginn.

Die vermeintliche Fröhlichkeit der beiden folgenden Sätze ist doppelbödig – wie immer bei Schostakowitsch. Wenn es nach Zirkus klingt, wie im Finalsatz, wenn das Pferdegetrappel einsetzt, wenn es laut und schnell wird, dann ist das mitnichten fröhlich, sondern vielmehr ein Tanz in den Abgrund. Ausgelassene Heiterkeit birgt in dieser Musik immer Todesgefahr. Dass das Orchester hochvirtuos spielte, versteht sich von selbst. Großer Jubel zur Pause.

Um nur eine Gruppe zu erwähnen: Das ganze Holz war an diesem Abend brillant aufgelegt, von Sébastian Jacot über Wenzel Fuchs bis zu Dominik Wollenweber, nach dessen Englischhorn-Solo man sich eigentlich gleich im Anschluss DSCHs Achte wünschte… Das aber nur kurz. Denn es folgte ja Tschaikowskys Pathétique.

Sucht man nach einem europäischen Orchester, das mindestens seit Karajan das russische Repertoire immer wieder phänomenal zu spielen imstande ist, kommt man um die Berliner nicht herum. Gerade die Pathétique ist mehrfach von diesem Orchester aufgenommen worden, zuletzt unter Chefdirigent Kirill Petrenko, der die Sinfonie gleich zu Beginn seiner Amtszeit in Berlin und Baden-Baden aufführte.

Ein inzwischen verstorbener Konzertfreund, dem ich einst eine frühe Aufnahme Karajans der Pathétique geschenkt hatte, schrieb seinerzeit ergriffen, eine solche Aufnahme dürfe es gar nicht geben, das sei doch kaum zu ertragen. Er meinte das positiv.

Und dann gibt es diese Aufnahme der Berliner aus der Reihe „Im Takt der Zeit“, mit David Oistrach (!) am Pult. Die schickte ich Javier Marías zu seinem 70. Geburtstag. Höflich, wie er war, schrieb er zurück. Das tat er immer: Er bedankte sich, was nicht mehr viele Menschen tun, fügte aber auch hinzu, Tschaikowsky sei nicht unbedingt sein Lieblingskomponist. Das ist der letzte Brief, den ich von Don Javier Marías Franco habe, denn nun ist auch er tot. Mann.

Unter Klaus Mäkelä, man glaubt es kaum, hörte ich – allen Aufführungen und Aufnahmen der Berliner Philharmoniker und anderer Spitzenorchester zum Trotz – neben Todesnähe, Trost und tiefster Trauer tatsächlich auch Neues. Das lag auch daran, dass Mäkelä die beiden Binnensätze angenehm gemessen nahm, ungehetzt, was gerade bei Jungspunden unüblich ist. In den divisi-Stellen im ersten und letzten Satz entdeckte ich Töne und Schattierungen, die ich bis dato nicht wahrgenommen hatte, etwa in den Bratschen. So fein strukturiert war das alles.

Nach der langsamen Einleitung und dem schier unmöglichen pianissimo von Wenzel Fuchs, das ich so nur von Anthony McGill (New York Philharmonic) und wenigen anderen Virtuosen der Klarinette gehört habe, folgt der fortissimo-Knall, bei dem ich immer sehr gern zum Publikum hinter dem Podium schaue, so es dort Plätze gibt. Jedes Mal finden sich ein, zwei Menschen, die unsanft geweckt werden…

Und dann natürlich die Stelle schlechthin im ersten Satz, kurz vor Schluss, der wahrhaft pathetische h-Moll-Dialog zwischen Streichern und Blech: Das war ergreifend und rührte einige Menschen im Publikum sichtlich an. Und der brillant gespielte Marsch des dritten Satzes löste den inzwischen leider üblichen reflexhaften Applaus aus. Mäkelä schaffte es jedoch im Finalsatz, die Ruhe wiederzufinden.

Der von der Tuba basstief grundierte Posaunenchoral zum Ende jenes Finalsatzes, das Pulsieren der Bässe, das Verklingen der Sinfonie: Es ist ein Aushauchen, ein morendo im wahrsten Wortsinn. Und es wäre perfekt gewesen, wenn die drei Huster noch einen Augenblick gewartet hätten und das Handy-Ungeheuer sein Endgerät ausgeschaltet gehabt hätte. (Immerhin war es nur ein kurzes Piepsen, immerhin eine Quinte über H…)

Nach dem Abgang des Orchesters von der Bühne erlebte ich ein Berliner Phänomen, das ich zuvor nur bei Abbado erlebt hatte: Der Applaus wollte nicht enden, bis der Dirigent ein letztes Mal auf die nun verwaiste Bühne kam. Ein warmer Empfang in Berlin, ein wichtiges Debüt für Klaus Mäkelä.

Es gibt mannigfaltige Möglichkeiten, in Berlin einen Samstag im Frühling zu gestalten. An diesem 22. April konnte man am Nachmittag im Olympiastadion der bemitleidenswerten alten Dame Hertha beim Taumeln in Richtung 2. Liga zusehen (2:4 gegen Werder Bremen).

Oder aber man konnte abends in der Philharmonie mit einem jungen Herrn am Dirigentenpult einen ganz anderen Weg in den Abgrund erleben, und das gleich in zweifacher Hinsicht. Beide Komponisten mögen sehr verschieden sein, doch sie verbindet die melancholische „russische Seele“, die Tragik des Menschseins, das Leid. Wen das kalt lässt, wer das für Seelenpornographie hält, der hat ein Herz aus Stein.

A propos kalt: Die Berliner Morgenpost schrieb über Mäkeläs Debüt, das Orchester habe ihm „die kalte Schulter“ gezeigt und ihn „gnadenlos auflaufen“ lassen. Das kann ich in keiner Weise bestätigen. Anders gesagt: Wenn das, was ich am Samstag erleben durfte, ein gnadenloses Auflaufen ist, dann kann ich davon nicht genug bekommen.

Dr. Brian Cooper, 23. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Berliner Philharmoniker, Klaus Mäkelä dirigiert Schostakowitsch und Tschaikowsky Philharmonie Berlin, 20. April 2023

Mark Andre und Gustav Mahler, Orchestre de Paris, Klaus Mäkelä, CPE Bach-Chor Elbphilharmonie, 19. März 2023

Orchestre de Paris, Klaus Mäkelä, Dirigent, Mark Andre und Gustav Mahler Elbphilharmonie Hamburg, 19. März 2023

2 Gedanken zu „Berliner Philharmoniker, Klaus Mäkelä, Dirigent, Schostakowitsch und Tschaikowsky
Philharmonie Berlin, 22. April 2023“

  1. Lieber Brian, die Einschätzung des Kollegen der Berliner Morgenpost hat mich auch sehr befremdet, um es vorsichtig zu formulieren, zumal ich ja just an demselben Abend im Konzert war. Mir eilt ja nun der Ruf großer Strenge voraus, aber dieses Konzerterlebnis hat auch mich sehr beeindruckt. Und ich hatte nicht im mindesten den Eindruck, dass das Orchester Mäkelä hätte auflaufen lassen. Im Gegenteil, die Solisten hätten niemals so toll gespielt, wenn sie das vorgehabt hätten. Totale Fehleinschätzung.

    Kirsten Liese

  2. Liebe Kirsten,

    vielen Dank für diesen Kommentar und auch für Ihren Bericht vom Donnerstag. Bei Norman Lebrecht geht’s diesbezüglich auch gerade hoch her. Er erwähnt aber nicht alles, wie so oft:

    https://slippedisc.com/2023/04/berlin-phil-cold-shoulders-klaus-makela/

    Nachtrag zu der erwähnten frühen Karajan-Aufnahme, da ich den Bericht im Zug nach Dortmund schrieb und nun wieder das heimische CD-Regal vor Augen habe: Sie ist von 1939, zufälligerweise also dem Jahr der Uraufführung von DSCH 6. Ich werde sie demnächst noch einmal anhören.

    DG „Dokumente“, aus der Reihe „Eloquence“, EAN 028947615460.

    Viele Grüße aus Bonn,

    Brian Cooper

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