Boston Philharmonic Youth Orchestra © Paul Mardy
Boston Philharmonic Youth Orchestra
Zlatomir Fung Violoncello
Dirigent Benjamin Zander
Schumann: Cellokonzert a-Moll
Mahler: Sinfonie Nr. 5
Elbphilharmonie Hamburg, 19. Juni 2024
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NDR Elbphilharmonie Orchester
Dirigent Nikolaj Szeps-Znaider
Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 5
Elbphilharmonie Hamburg, 23. Juni 2024
von Harald Nicolas Stazol
Das internationale Zeichen für „Spaghetti essen“ macht der Baum von einem Mann, der Däne Nikolaj Szeps-Znaider, „Wir haben Hunger!“, um den Applaus zu stoppen, nachdem er das NDR Elbphilharmonie Orchester derart zu nie gehörten und immer erhofften Höchst-höchst-Leistungen gepeitscht, gestreichelt, gezügelt hat, mit riesiger Hand und kanülenhaft zugespitzem Spitzen-Baton, dessen Ähnlichem sich der Verfasser nicht zu erinnern vermag, von Glyndebourne abgesehen…
Denn zum sechsten Male, nach dieser AUSSERGEWÖHNLICHEN 5. Symphonie von Peter Iljitsch Tschaikovsky, ja, sechs Mal ruft ein zwischen Elysium und Ekstase oszillierendes Publikum, ja, der Applaus währt lange wie ein fünfter Satz, mindestens aber zehn Minuten!
Die Fünfte. Der Komponist, der Meister, ach was, das Genie, kehrt von einer Europa-Tournee zurück,
„Ende März 1888, kurz vor der Rückfahrt, vertraute er seinem Tagebuch an: «Nach Hause. Packen. Es steht eine Reise nach Russland bevor. Schreiben für wen? Weiterschreiben? Lohnt kaum. Wahrscheinlich schließe ich damit für immer mein Tagebuch ab. Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht mehr fern. Lohnt sich denn dann alles noch?»“
Dies in dem flachen Büchlein, das die Saalordnerinnen, höflich, wie nur in Hamburg, sorgsam und großzügig verteilen, in dem wunderbaren Essay der Sylvia Roth, denn weiter:
„In diesem melancholischen Zustand begann der Komponist die Arbeit an seiner Fünften Sinfonie, und die Angst davor, dass er scheitern könne, begleitete ihn permanent. Er müsse die Musik aus seinem «abgestumpften Hirn herausquetschen», beklagte er sich, voller Sorge darüber, dass seine Inspiration versiegt sei. Zwar vermeldete er Nadeschda von Meck nach knapp dreimonatiger Arbeit: «Meine Sinfonie ist fertig, und mir scheint, sie ist nicht misslungen, das ist gut.» Doch diese vorsichtige Wertschätzung sackte unmittelbar nach der von ihm selbst dirigierten Uraufführung am 17. November 1888 in St. Petersburg wieder in sich zusammen, unbeeindruckt von zahlreichen begeisterten Rückmeldungen.“
Von wegen begeisterter Rückmeldungen? An der Elbe? Am 23. Juni 2024? 19.38 Uhr?
Sechsmal auf die Bühne!!!
Nikolaj Szeps-Znaider nimmt den 1. Satz, den Trauermarsch, bedächtig, um dann in der Fortentwicklung zum prächtigen Hauptthema mit viel Bombast überzugehen, aber viel zu schnell! – doch halt! Warum tut er das?
Dabei stets lächelnd vor Begeisterung, und er reißt die manchmal doch recht steifen Hanseaten, wie immer in hocheleganten Fracks zu Lackschuhen, mit… er und das Orchester werden eins, spätestens in der Mitte des Zweiten Satzes – es ist ja heute schon die zweite Aufführung, nun blühen sie vollends auf, und Szeps-Znaider verlässt sich auf das Solo Horn einer wahren Virtuosin, ja weite Strecken tragend, wie dann die Oboe, zum Zirpen der Geigen, zum Pizzicato der Celli und Kontrabässe, da öffnet sich die duftende Rosenknospe eines Klangkörpers, der an diesem frühen Sommerabend in hellem Licht und heiterem Lachen im Foyer in der Abendsonne, da erblüht ein Philharmonisches Orchester und erhebt sich auf Weltniveau.
So höre ich es.
Woher ich das weiß? Weil Nikolaj Szeps-Znaider die gesamte, ja von Depression und Verzweiflung gezeichnete Sinfonie lang über sich empor und hinauswächst – beim heiteren Walzer etwa, zu dem der Dirigent leichtfüßig tanzt, und immer scheint er ein „Darf ich bitten?“ in sein Rund der Virtuosen zu werfen, und ja, er darf!
Hier dauern die vier Traumsätze noch 43 Minuten – bei Bernstein mit dem Boston Philharmonic Orchestra sind es 52!
Da rasen sie los wie beim Derby, und tatsächlich hauts niemanden aus der Kurve. Nikolaj Szeps-Znaider vielleicht, er wuchtet seinen dänischen Viking-Body hin und her und runderherum zu seinem Tschai, der Mann, der den Stab als „Wunderpinsel“ beschrieben hat, ist er doch auch Geigenvirtuose, und dieses Elphi-Dirigat sein Debüt auf dem Pult – meinetwegen muss er da nie wieder runter! Jedenfalls in diesem Moment.
Und ganz wie Leonard Bernstein 1963 in Boston wird zwischen den von Trauer zu Triumph sich steigernden Sätzen keine Pause gemacht, beide Meister spielen Attacca, was das Werk ja noch logischer in seiner harmonischen Abfolge erklärt, und, ganz nebenbei, das Publikum diszipliniert – außer dem Touri vielleicht über dem Gang, der während Tschaikovsky ungeniert seine Beine ausstreckt unter dem Geländer, immer wieder!
Ich schlage vor, auf den obersten Rängen Rudergeräte aufzustellen! EIN FÜR ALLE MAL: Die Elbphilharmonie ist kein Fitness-Studio! Wir trainieren auf den Treppen draußen, das muss reichen! Fittester ist aber der tolle Herr an der Pauke, der bejubelt werden wird wie ein Fußball-Star, hat er bei Tschai doch allerhand zu tun! Erste Liga, ich sag’s ja!
Ein wenig nur bedauere ich, den NDR nicht um beide Konzerte gebeten zu haben, dass eben auch von 16.00 Uhr, denn mir geht ja auf, dass ich die Fünfte seit der Carnegie-Hall (ich war zur Fashion Week in NYC) 1998 mit den New York Philharmonics nicht mehr gehört hatte – dennoch ist sie mein Liebling, und dem Publikum etwas nach dem Tode des Meisters auch, bis zum heutigen Tag.
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Wie aber kommt man zu den Boston Philharmonics?
Vielleicht, weil man dem Boston Philharmonic Youth Orchestra angehört, das mit einem ehrgeizigen Programm angereist ist, keine drei Tage vorher – eben das zweite Mal Boston! Und was für eins!
Als Variante: Doch davon soll nun im II. Teil die Rede sein…
„The youngest is thirteen!“ – das jüngste Orchestermitglied ist 13, ruft der dritte Maestro dieser Erzählung, Benjamin Zander, 84, stolz aus, und „Music is everything“, und dass sein 120 Teens und Twens umfassendes Jugendorchester diesen Besuch in der Elphi nie, „never“, vergessen wird – eine Träne der Rührung kullert da meine vor Begeisterung glühenden Wangen herab. Man muss sie einfach lieben, die kleinen Amis!
Und darum wird eben bei uns in der 15. Etage jener eigene, gediegene, amerikanische Akzent gesprochen um einen herum, den man „Bostonian“ nennt – viele Eltern sind dem Konzert also nachgereist – „Viele Amerikaner?“ frage ich Herrn Jacob, den Concièrge des Westin Grand nach einer Zigarette auf dem Platz, „Wir sind ausgebucht!“ – so macht man sich eine Vorstellung davon, auf welchem Niveau das Orchester der Jugend sich bewegt, auch gesellschaftlich, und hochgepriesen von der „New York Times“: Lively. Vibrant. Talented.
Mahler 5? Ihr lieben Kinder, my dear Kiddies, habt ihr euch damit nicht ein wenig übernommen, denke ich noch – but Boy, AM I WRONG!!!
Was da unter einem edlen Greis zusammengewachsen ist, der sich während des Dirigates nun wirklich kaum bewegt, alles geht aus den Armen, auch da zurückhaltend, wie ein Gentleman von der Ostküste eben ist – ach, wenn man nochmal Zwanzig wäre!
Sie geben einen Mahler voller Leidenschaft und Hingabe, voller Ungestüm und Sturm und Drang, manchmal, etwa im zweiten Satz, brennen sie durch zuweilen, aber wer will sie schon bändigen?
Der Meister vermag es! Der vierte Satz, diese Elegie erster Güte, ist ja voller Schwierigkeit, und sollte hier und da noch ein wenig zu üben sein? Dies zu behaupten wäre beckmesserisch: Meine Boston-Band kommt dort einfach bei den Pianissimi mit der Akustik unseres Hauses nicht zurecht – what the dizzle! – aber voller Schmelz schaffen sie es, und hinreißend, mit der Kraft, die einem die Götter für die Jugend verleihen! Selten war ich lebensfroher nach einem Konzert!
Und so gibt es WhatsApp Gruppen unter den Élèves Brillants – der Trouvaille, der Entdeckung des Abend – sie tauschen sich aus mit den älteren Musikern, – –was für ein wunderbares Konzept? Und dann gleich eine Europatournee!
Schön, dass ihr da wart, Kiddies! Jederzeit wieder!
SO wird man ein Boston Philharmonics.
Harald Nicolas Stazol, 25. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Boston Philharmonic Youth Orchestra, Benjamin Zander, Musikverein Wien