Andris Nelsons mit dem Boston Symphony Orchestra © Marco Borggreve
Jean-Yves Thibaudet, Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra in der Kölner Philharmonie
Kölner Philharmonie, 3. September 2023
Carlos Simon (*1986) – Four Black American Dances für Orchester
Igor Strawinsky (1882-1971) – Petruschka (1910-11, rev. 1946-47)
George Gershwin (1898-1937) – Konzert für Klavier und Orchester F-Dur (1925)
Maurice Ravel (1875-1937) – La valse, Poème choréographique (1920)
Jean-Yves Thibaudet, Klavier
Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Nun sind sie endlich wieder in Europa – das Spitzenorchester aus der, wie man ja sagt, europäischsten Stadt der USA. Die letzte Tournee war noch wegen der Nachwehen von COVID-19 abgesagt worden.
Zuweilen hört man auch, das Boston Symphony Orchestra sei das „europäischste“ Orchester der USA. Und dieser Elite-Klangkörper war zum ersten Mal seit acht Jahren wieder in Köln. Ein Ereignis. Kaum zu glauben, dass die kommende Spielzeit bereits die zehnte von Andris Nelsons als Music Director in Boston sein wird. Und es ist ein Vergnügen, seine Karriere seit über 20 Jahren zu verfolgen. Die Gestik ist sparsamer geworden, nicht mehr so ausladend wie früher, und die Ähnlichkeit des Dirigierstils zu jenem seines verstorbenen Mentors Mariss Jansons ist nicht zu übersehen. Nelsons wird immer mehr zum Maestro im wörtlichen Sinne. Das zeigte sich nicht nur jüngst mit den Wiener Philharmonikern in Mahlers Siebter, sondern auch an diesem Abend.
„Carlos Simon hat aktuell einen richtigen Lauf“, schreibt Guido Fischer im Kölner Programmheft. Und: „Simons Musik kommt blendend an.“ Hört man die Four Black American Dances des 37jährigen Komponisten, versteht man sogleich, warum. Der Fuß wippt leise mit; es sind mitreißende, brillant orchestrierte Tänze, die pure Freude bereiten. Simons “deep engagement with Black musical traditions through the lens of contemporary classical concert music”, wie auf der Homepage des BSO zu lesen ist, kam hervorragend an.
Der erste Tanz, „Ring Shout“, ist mit dem dritten, „Tap!“, geistesverwandt: Es ist unverkennbar Musik aus den USA: rhythmisch geprägt, viel Schlagwerk und Blech, kantig, zackig. Der zweite Tanz, ein Walzer, erinnert stark an Rachmaninow bzw. Filmmusik, und im letzten, „Holy Dance“, wird nochmal alles aufgefahren, was ein großes Orchester so zu bieten hat. Die chromatischen Bässe, das Holz, vor allem die drei (stehenden!) Posaunisten, die alles geben… Um den Kaufmann Bendix Grünlich aus Thomas Manns Buddenbrooks zu paraphrasieren: Das swingt ganz ungemein!
Gänzlich anders, nämlich laut und lärmend, swingt es auf dem Jahrmarkt zu Beginn von Strawinskys Petruschka, das in der revidierten Fassung von 1947 gespielt wurde. Erst mit dem magisch gespielten Flötensolo entstand eine erste Ruheoase. Das Publikum im bedauerlicherweise nicht ausverkauften Saal lauschte gebannt. Im an diesem Abend hervorragend aufgelegten Orchester glänzten hier zuvorderst wirklich sämtliche Pulte in den Holzblasinstrumenten: Von feinsten Nuancierungen (wieder die hell leuchtende Flöte im Walzer) bis hin zu richtig Derbem (das Fagott; die schräg spielenden Klarinetten) war es eine Wonne. Ein Sonderlob gilt dem Pianisten des Orchesters, der sämtliche Tücken des „Mini-Klavierkonzerts“ souverän meisterte.
Man hört in Petruschka an gewissen Stellen „volle Kanne“, wie es mal ein Freund beim gemeinsamen Hören der Muti-Aufnahme formulierte, Frühlingsopfer und Feuervogel heraus. Und zu Beginn des dritten Bildes fiel mir im Konzert der Bostoner zum ersten Mal sogar eine kurze Stelle auf, bei der Bernard Herrmann „volle Kanne“ ein paar Töne, sagen wir, entlehnt hat für seine geniale Filmmusik zu Der unsichtbare Dritte.
Nach der Pause spielte Jean-Yves Thibaudet Gershwins herrliches Concerto in F nicht mit der großen Pranke, sondern geradezu elfenhaft: Taktweise dachte man gar an Satie oder Debussy. Aufmerksam vom Orchester begleitet, konnte Thibaudet seine gesamte Virtuosität an den Tag legen. Nicht etwa, um damit anzugeben, sondern mit sichtbarer Freude daran, diese Musik perlen zu lassen – vor allem das „Französische“ in diesem Stück Gershwins, der ja sehr von Ravel bewundert wurde und im selben Jahr wie dieser starb. Die rhythmisch vertracktesten Stellen wurden dank Nelsons und seinem hellwachen Orchester zu einem wahren Vergnügen. Hervorzuheben seien hier die dunkel timbrierten Klarinetten, die im zweiten Satz die fantastisch aufspielende Solotrompete begleiteten. Meisterhaft.
Mit Ravels mitreißendem Zwölfminüter La valse, einem Kölsch aufs Haus (leider nicht für den Autofahrer) und dem Wunsch, die Bostoner mögen bitte nicht noch einmal acht Jahre mit ihrem Philharmonie-Besuch warten, endete ein besonderer Abend.
Dr. Brian Cooper, 4. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Matthias Goerne, WDR Sinfonieorchester, Cristian Măcelaru Kölner Philharmonie, 1. September 2023