Brittens War Requiem in der Elphi – „Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen“

Brittens War Requiem – „Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen“  Elbphilharmonie, 18. Juni 2024
Britten: War Requiem / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Teodor Currentzis sagt in einem Interview, das War Requiem sei ein Stück, dass jeder kennen müsse, ein Stück für jeden. Ich durfte es am Sonntag genauer kennenlernen – Danke, dass ich es in dieser Perfektion erleben durfte.

Benjamin Britten: War Requiem
Teodor Currentzis, Dirigent

SWR Symphonieorchester  Internationales Musikfest Hamburg

London Symphony Chorus

SWR Vokalensemble Stuttgart
Knabenchor Hannover

Irina Lungu – Sopran
Allan Clayton – Tenor
Matthias Goerne – Bariton

Elbphilharmonie Großer Saal, 16. Juni 2024 


von Iris Röckrath

Hat gerade meine Mannschaft das entscheidende Tor geschossen?  Einen derartigen (Tor-)Jubel / -Applaus wie nach dieser fulminanten Aufführung habe ich in der Elbphilharmonie noch nie erlebt.

Gerade sind die KonzertbesucherInnen Zeugen eines Konzertes geworden, das zutiefst bewegte und verstörte. Die Schlussworte des Chores „Mögen sie in Frieden ruhen. Amen“ wurden von den Chören voller Hingabe dargeboten mit einem kaum wahrnehmbaren allerletzten verhallenden Ton auf dem Buchstaben „n“.

Danach schafften es die Zuhörenden, noch eine gefühlt ewige Zeit Stille auszuhalten, bis Currentzis erlösend die Arme sinken ließ und sich der befreiende frenetische Jubel in den Konzertsaal Raum brechen durfte.

Currentzis schafft es immer wieder, mich in seinen Bann zu ziehen. Allein sein Auftritt zu Beginn hat eine besondere Strahlkraft. Er betritt die Bühne nicht nur, er nimmt sie ein. Er füllt augenblicklich mit seiner Präsenz den Raum. Er betritt das Dirigentenpult und dann erdet er sich. Seine Beine verankern sich im Boden und dann fängt der Oberkörper an, zu leben. Er erinnert mich an eine Fledermaus, die die Flügel ausbreitet und dann auf den Orchesterklängen zu fliegen beginnt.

Britten: War Requiem / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Der riesige Klangapparat beginnt, den großen Saal der Elbphilharmonie mit Klängen zu füllen. Die a cappella-Stelle gleich zu Beginn des Stückes „Kyrie Eleison. Christe eleison, die nur von einem Glockenschlag begleitet wird, wird zu einem Hörerlebnis. Dieses Gewebe aus unterschiedlichsten Tönen scheint aus dem Jenseits zu kommen. Im direkt anschließenden „Dies irae“ können die Bläser dann zeigen, was in ihnen steckt. Die eindringlichen Stakkati „Laut wird die Posaune klingen“ lassen die ZuhörerInnen erschaudern. Die ewige Unruhe, das Unbehagen und die Anspannung in der Musik Benjamin Brittens sind deutlich zu spüren.

Das SWR Symphonieorchester folgt den weiten ausladenden Bewegungen seines Chef in seinem Abschiedskonzert bis hin zu kleinsten Bewegungen, die der Maestro mit seinen Händen bis in die Fingerspitzen formt. Die Virtuosität der einzelnen MusikerInnen, das Zusammenspiel, die Strahlkraft des Blechs ziehen das Publikum in ihren Bann.

Die Chöre bestechen durch Klangschönheit, sie singen schöne Legatobögen, harte, unbarmherzige Stakkati, sie reagieren auf dynamische Rafinessen, die Currentzis bis in die Extreme einfordert. Das Pianissimo klingt immer noch einen Hauch leiser, das Fortissimo geht an die Grenzen des Hörbaren.

Britten: War Requiem / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Der Knabenchor Hannover „schwebt“ rechts oben auf einer der Emporen und singt von Erlösung und ewiger Ruhe so zart und wunderschön, als wenn die Töne aus einem einzigen Mund kommen würden.

Die berührende, klare, warme Tenorstimme von Allan Clayton und der leicht angerauhte Bariton von Matthias Goerne würde ich als Idealbesetzungen bezeichnen. Beide bestechen durch ihren Vortrag der nachdenklich stimmenden Texte. Fast möchte man sagen, sie erzählen nicht nur die Schützengrabengedichte, die Wilfried Owen verfasst hat, sondern sie haben sie wirklich erlebt.  Manchmal beugt sich Currentzis vom Pult zu ihnen hinunter und man kann sehen, wie er die Worte mitformt. Dadurch wirken sie noch intensiver.

Die Sopranistin Irina Lungu singt die Liturgietexte aus der Mitte des Orchesters heraus mit ihrer runden Sopranstimme und erhebt sich am Ende ausdrucksstark über den Chor.

Britten: War Requiem / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Das War Requiem, das am 30. Mai 1962 in der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry uraufgeführt wurde, wurde von Britten als gewaltiges Monument der Versöhnung bzw. als musikalische Friedensbotschaft geschrieben. Der lateinische Messtext wurde von Britten mit brachialen Schützengrabengedichten von Wilfried Owen (der als 25-Jähriger im ersten Weltkrieg fiel) kombiniert. Von Owen stammen auch die Worte „Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges. Die Poesie liegt im Leid… Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist: warnen.“

Britten: War Requiem / Teodor Currentzis © Daniel Dittus

Teodor Currentzis sagt in einem Interview, das War Requiem sei ein Stück, dass jeder kennen müsse, ein Stück für jeden.

Ich durfte es am Sonntag genauer kennenlernen – Danke, dass ich es in dieser Perfektion erleben durfte.

Iris Röckrath, 18. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Klein beleuchtet kurz 38: Benjamin Brittens War Requiem klassik-begeistert.de, 17. Juni 2024

 

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