Yannick Nézet-Séguin veredelt alles: Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Beatrice Rana mit Werken von Hans Abrahamsen, Clara Schumann und Johannes Brahms in atemberaubender Perfektion
Elbphilharmonie, Hamburg, 11. Mai 2022
Konzert, Musikfest Hamburg
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Beatrice Rana, Klavier
von Dr. Holger Voigt (Text und Fotos)
Am Ende des Konzertabends stand fest: Es war ein Ereignis der künstlerischen Perfektion! Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin ließ das Orchester des Bayerischen Rundfunks in kongenialer Einheit mit seinen Musikern so erklingen, dass man es für Ewigkeiten festhalten möchte. Was ihm gelang, musste ihn wohl auch selbst sehr bewegt haben, denn er versank nach Konzertende geradezu in einer Umarmung mit dem Konzertmeister, was zu beobachten auch dem Publikum unter die Haut ging. An diesem Abend war eben alles perfekt, und wer es nicht glauben kann, möge sich den Elbphilharmine-Livestream ansehen. Riesiger Jubel dankte es allen Musikern.
Am Beginn des Konzertabends stand die in den letzten Pandemiejahren 2020/21 entstandene Komposition Vers le silence von Hans Abrahamsen, einem der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten aus Dänemark. Dieses in vier Sätzen klar durchstrukturierte sinfonische Werk meditiert unter Ausreizung aller orchestrierbaren Möglichkeiten eines Sinfonieorchesters das Grundthema der (isolationistischen) Stille (Silence), der es als Endpunkt unter Durchwanderung unterschiedlichster, initial schrill-dissonantischer Klangwelten, schrittweise zustrebt. Dabei ist es in Anbetracht der Klangmöglichkeiten von Orchester und Orchesterraum (Elbphilharmonie) besonders herausfordernd und vermittelt völlig neuartige Klangerlebnisse. Mir fiel auf, dass abschnittsweise ein derartiges Werk sogar romantische Klangerfahrungen hervorrufen kann. Im letzten Satz werden die Klangmotive kontinuierlich ausgedünnt, bis zum Schluss diese quasi wie ein Schwebfaden im Klangraum der Elbphilharmonie in die Unendlichkeit fortdriften. Und gerade in diesem hochsensitiven Moment wird in der Elbphilharmonie kräftig hineingehustet! Was für ein Affront für die Musiker und Musikliebhaber! Auch an diesem Abend war das Publikum erneut ein Problemfall; und als wäre das vorangegangene „Skandal-Konzert“ (klassik-begeistert berichtete darüber) nicht gewesen, diente auch heute abend das Musikerpodium wieder als bequemer Programmheft-Ablageplatz für Besucher der ersten Reihe. Aber solange dort keine gefüllten Picknickkörbe abgestellt werden, kann man ja schon etwas gelassener sein…
Am Ende gab es großen und einhelligen Beifall für Orchester und Dirigent, der den im Publikum anwesenden, heute 69-jährigen Komponisten auf die Bühne bat und zum Orchester führte, wo er sich, sichtlich gerührt, bei Orchester und Publikum bedankte.
Nach der Pause betrat die erst 29-jährige italienische Pianistin Beatrice Rana das Podium, und das in einem metallisch funkelnden, anthrazit-blaugrünen Kleid, das allein schon eine Augenweide für sich war. Ohne Notenvorlage spielte sie völlig frei das leider nur selten aufgeführte einzige Klavierkonzert Clara Schumanns, dessen drei ineinander übergehende Sätze eine tief romantische Welt durchstreifen, die das Soloinstrument in einen umfassenden sinfonischen Klangraum einbettet. Dieses durchaus anspruchsvolle Konzert ist trotz seiner zeitlichen Kürze von etwa 25 Minuten gespickt mit erheblichen Schwierigkeiten sowie wunderschönen pianistischen Kantilenen und weist im zweiten Satz (Romanze) einen hinreißend schönen instrumentalen Dialog mit dem Solo-Violoncello auf, der so schön gespielt wurde, dass es dafür verdienten Extra-Applaus gab (Giorgi Kharadze, gebürtig in Georgien).
Schön anzusehen, wie Dirigent Yannick Nézet-Séguin während der solistischen Pianoläufe voller emotionaler Mitbeteiligung diese mit Blick und Körpersprache begleitete. Das alles waren magische Momente, die man immer wieder neu erleben möchte! Brava!-Rufe und nicht enden wollender Applaus für alle. Als Encore gabe es dann – vierhändig vorgetragen – Johannes Brahms’ Walzer Op. 39 No. 15 in As-Dur, mit höchster Sensibilität gespielt und fast wie durch den großen Saal der Elbphilharmonie „hingehaucht“!
Die ursprünglich in der Programmplanung vorgesehen Sinfonie No. 3 d-moll von Anton Bruckner (seine sog. „Wagner“-Sinfonie) wurde relativ kurzfristig durch die Sinfonie No. 3 F-Dur von Johannes Brahms ausgetauscht, womit der musikhistorische Bogen zu Clara Schumann und deren Beziehung zu Johannes Brahms geschlossen wurde. In furiosem Tempo mit fein dosierter Dynamik und präzisen Artikulation der sich aus dem Fluß entwickelnden sinfonischen Motive (Streicher und Holzbläser) verschmolzen Orchester und Dirigent zu einer Einheit musikalischer Perfektion, die man nur selten erleben kann.
Was ist das für ein hervorragendes Orchester! Schon seit langem ist das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks eines der weltbesten, aber wer daran noch immer zweifeln sollte, möge es sich sofort anhören, wann immer die Möglichkeit dazu besteht. Allein schon das Zusehen bereitet grenzenlose Freude, wenn man beobachtet, wie der Brahmssche Orchesterklang durch 8 Kontrabässe und 11 Violoncelli voller Spielfreude der die Musiker generiert und durch den Saal getrieben wird. Frenetischer Applaus, Bravi-Rufe und zum Schluss Ovationen im Stehen für Orchester und den Dirigenten, der sichtlich gerührt und tief bewegt seinen Musikern dankte. Was für ein Konzertabend!
Dr. Holger Voigt, 15. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Hans Abrahamsen
Vers le silence
Fast with passion, impetus I-Schwunge with fire
Fast and gloriously
With utmost force, storming
Very slow, darkly flowing
Clara Schumann
Konzert für Klavier und Orchester a-moll op. 7 (1833-1835)
Allegro maestoso
Romanze. Andante non troppo con grazia
Finale. Allegro non troppo
Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90
Allegro con brio
Andante
Poco Allegretto
Allegro
Richard Wagner, Tannhäuser, Hamburgische Staatsoper, 1. Mai 2022, Premiere B