Buch-Besprechung:
Auch bei dieser verdienstvollen und überfälligen biographischen Würdigung Böhms schleicht sich an vielen Stellen ein vorwurfsvoller, kritischer Unterton ein. Wissenschaftlich absolut korrekt und akribisch recherchiert lässt das Buch in der Summe der Beiträge aber jegliche Empathie, den Künstler Böhm betreffend, vermissen.
Thomas Wozonig (Hg.)
Karl Böhm
Biografie, Wirken, Rezeption
edition text+ kritik
von Peter Sommeregger
Es ist erstaunlich, dass der Dirigent Karl Böhm erstmals über 40 Jahre nach seinem Tod mit einer Biographie gewürdigt wird. Böhm galt zu Lebzeiten doch als einer der führenden Dirigenten im internationalen Klassikbetrieb, konnte sich neben den Pultstars wie Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein behaupten. Seine Diskographie ist sehr umfangreich, viele seiner Mozart- und Richard-Strauss-Einspielungen gelten bis heute als Referenzaufnahmen.
Der große zeitliche Abstand zu Böhms Tod 1981 ermöglicht einerseits eine Würdigung des Porträtierten, die frei von subjektiven tagesaktuellen Einschätzungen ist, andererseits sind wohl ein großer Teil der Verfasser der einzelnen Beiträge keine Zeitzeugen mehr, die Böhm selbst noch als Dirigenten erlebt haben, und seine Stellung im Musikleben seiner Lebenszeit wahrgenommen haben. So ist die entscheidende Frage, ob Karl Böhm zum Kanon der großen Dirigenten zu zählen ist, retrospektiv nicht mehr wirklich fair zu beantworten.
Das mit über 600 Seiten sehr umfangreiche Buch ist übersichtlich gegliedert. Der erste Teil, Biografie & Karriere, gliedert sich in mehrere Abschnitte. Nach einer Familienbiografie und Auflistung der überschaubaren Zahl von Kompositionen Böhms wird umfangreich über seine Karrierestationen referiert, ausgehend von Darmstadt über Dresden, die Salzburger Festspiele vor und nach dem 2. Weltkrieg, die beiden Direktionszeiten an der Wiener Staatsoper und die Bayreuther Festspiele. Behandelt wird auch Böhms Tätigkeit an der Londoner Oper Covent Garden und sein umfangreiches Wirken an der New Yorker Met.
Der zweite Teil widmet sich den Themen Repertoire und Interpretation. Hier erfolgt eine Gliederung nach Komponisten, Mozart, Beethoven, Wagner, Richard Strauss und als Vertreter der Moderne Alban Berg und Paul Hindemith.
Karl Böhms Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern, seine durchaus festzustellende Anbiederung, trübte schon immer das Bild des Künstlers. In den Jahrzehnten seit seinem Tod hat sich die Sichtweise darauf merkbar verändert, ist erheblich kritischer geworden. Je länger die Zeit des „Dritten Reiches“ zurückliegt, desto bohrender wird heute das Verhalten in jener Zeit hinterfragt. Das ist legitim, birgt aber auch jeweils die Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und Karrieren noch posthum zu beschädigen. Man kann dies gut an dem Beispiel des Komponisten Richard Strauss beobachten, den man trotz berechtigter Vorwürfe allzu eifrig zum Nazi zu machen versuchte. Ein differenzierter Blick auf die Zeitumstände, die keiner der jeweiligen Publizisten als Erwachsener erlebt hat, wäre angemessen.
Auch bei dieser verdienstvollen und überfälligen biographischen Würdigung Böhms schleicht sich an vielen Stellen ein vorwurfsvoller, kritischer Unterton ein. Wissenschaftlich absolut korrekt und akribisch recherchiert lässt das Buch in der Summe der Beiträge aber jegliche Empathie, den Künstler Böhm betreffend, vermissen. Es ist vielleicht ein unvermeidbares Manko solcher aus vielen Einzelbeiträgen verschiedener Autoren zusammengestellten Biographien, der dargestellten Persönlichkeit kein klares Profil zu verleihen.
Als Zeitzeuge sind mir noch lebhaft prägende musikalische Erlebnisse mit Böhm in Erinnerung, so etwa Wieland Wagners „blauer“ Wiener „Lohengrin“1965, und seine „Elektra“ im gleichen Jahr. Zehn Jahre später erlebte ich ihn im Pariser Palais Garnier mit dem gleichen Werk, das ganze musikalische Paris schien damals Böhm zu Füßen zu liegen.
Sicher, das sind subjektive, persönliche Erfahrungen, aber von der Böhm damals entgegengebrachten Begeisterung findet sich so gut wie nichts auf den über 600 Seiten.
Loben muss man aber in jedem Fall die umsichtige Arbeit des Herausgebers Thomas Wozonig. Er gibt damit der Forschung ein wichtiges Instrument an die Hand, von der die Musikwissenschaft noch lange wird zehren können.
Peter Sommeregger, 17. August 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik begeistert.at
Buchbesprechung: Herbert Blomstedt, Mission Musik klassik-begeistert.de, 11. Juli 2025
Buchbesprechung: Die Strauss- Dynastie Band 1 klassik-begeistert.de, 9. November 2024
Sorry, da verstehe ich was nicht. „Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden.“ So, die gängige Definition.
Was heißt dann „… lässt das Buch in der Summe der Beiträge aber jegliche Empathie, den Künstler Böhm betreffend, erkennen.“? Dieser Satz erschließt sich mir nicht. Meinten Sie vielleicht vermissen?
Einen anderen Satz möchte ich hinterfragen. „Ein differenzierter Blick auf die Zeitumstände, die keiner der jeweiligen Publizisten als Erwachsener erlebt hat, wäre angemessen.“ Das klingt ein wenig so, wie ich es – Jahrgang 1950 – in meiner Jugend von Älteren, die im sogn. Dritten Reich gelebt und gearbeitet haben, auf kritische Fragen immer wieder gehört habe: Du warst doch gar nicht dabei, du kannst das doch gar nicht beurteilen.
Dabei ist es umgekehrt. Zeitzeugen, die Geschichte direkt erlebt haben, die jemanden kannten, sind immer zu hinterfragen, da ihr Erlebtes immer persönlich gefärbt sein muss. Und manchmal, wenn sie direkt involviert sind, sogar schönfärbend.
Prof. Karl Rathgeber