Foto: Das Cover des Buchs
Buchbesprechung:
Andreas Schwab
Freiheit, Rausch & Schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme
Verlag C.H. Beck oHG, München 2024
ISBN: 978-3-406-814-358
von Jolanta Łada-Zielke
Auf dem Umschlag des Buches sehen wir die Reproduktion eines Werbeplakats aus dem Jahr 1900 abgebildet, das ein Stillleben mit einer schwarzen Katze zeigt, die Absinth aus einem Kristallglas nippt. Die schwarze Katze war ein Symbol für die künstlerische Bohème der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Nach ihr nannte man das beliebteste Pariser Kabarett am Montmartre. Wenn ich dieses Bild anschaue, muss ich an das Stück Der genügsame Liebhaber von Arnold Schönberg aus seinem Zyklus Brettl-Lieder von 1901 denken, in dem der Lyriker Hugo Salus das Thema der schwarzen Katze humorvoll behandelt.
Andreas Schwab, der Autor dieser interessanten Studie der Geschichte der Bohème, bezieht sich auf La Bohème Puccinis. Diese nach einem Roman von Henri Murger komponierte Oper hatte ihre Premiere 1896 am Teatro Regio in Turin und wird heute häufig aufgeführt. Schwab zeigt jedoch die Bohème nicht nur als eine Gruppe hungernder Maler, Dichter und Musiker, die sich in an Tuberkulose sterbende Sängerinnen oder Tänzerinnen verlieben. Er stellt auch erfolgreiche Mitgliederinnen und Mitglieder des künstlerischen Milieus von Paris, Berlin und Wien dar. Der Rahmen dieses Buchs ist die Geschichte der Ehe von dem Dramatikern August Strindberg und der Journalistin Frida Uhl.
Der Charme der Bohème besteht aus großartigen Werken der Kunst und Literatur, aber auch aus der damit einhergehenden Ungewissheit der Zukunft, der Anfälligkeit für Krankheiten, dem chronischen Geldmangel, der dekadenten Stimmung, und dem Balancieren am Rande des Todes. Die Vorstellungskraft versetzt den Leser in die Cafés von Paris, am Montmartre oder Montparnasse, oder in den Zuschauerraum des 1884 gegründeten Theaters Moulin Rouge. Während der Lektüre kann man fast den Duft von frisch gebrühtem Kaffee oder Tabak riechen und im Kopf das Rauschen von der „grüne Fee“ – dem Absinth, dem man halluzinogene Eigenschaften zuschrieb.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieses Getränk verboten, nachdem jemand unter seinem Einfluss ein Verbrechen begangen hatte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte den internationalen und bunten Charakter der Bohème zunichte. Die französische Operette diente nun nicht mehr der reinen Unterhaltung, sondern wird zum Vehikel für patriotische Inhalte.
Neben Strindberg und Murger tauchen im Buch die Dichter wie Charles Baudelaire und Richard Dehmel, die Schriftsteller: Hans Jaeger, Frank Wedekind, Guy de Maupassant und Émile Zola, sowie die Maler: Franz Marc, Edvard Munch und Henri de Toulouse-Lautrec auf. Unter den Musikern erscheint neben dem bereits erwähnten Puccini auch Hector Berlioz.
Die Frauen spielten in dieser Gesellschaft nicht nur die Rolle der so genannten „Grisetten“, der Musen oder der Trösterinnen der Künstler, sondern waren auch selbst literarisch, journalistisch, künstlerisch und sogar politisch tätig. Schwab stellt dem Leser interessante Persönlichkeiten wie Franziska zu Reventlow, Schriftstellerin, Malerin und Übersetzerin vor.
Ähnlich aktiv waren Hedwig Lachmann, Else Lasker-Schüler, George Sand, Luise Colet, Dagny Juel und die Malerin Oda Krogh. Zu den Chansonetten gehörten Polaire (Émilie Marie Bouchaud), Jeanne Bloch, Marya Delvard, Félicia Mallet, Lise Fleuron. Den meisten Raum widmet der Autor Yvette Guilbert – der Königin der Chansonetten, ebenfalls „Botticelli der Pariser Vorstadt“ genannt. Im Jahr 1896 unternahm sie eine vierzigtägige Tournee durch die USA, auf der sie selbst rekonstruierte altfranzösische Lieder aus dem 13. und 14. Jahrhundert aufführte. Einige weibliche Intellektuelle nahmen den Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen auf, darunter Ida Dehmel, Josepha Krzyżanowska, Laura Morh sowie Gertrud Bäumer.
Der berühmteste polnische dekadente Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, der seine Romane auf Deutsch schrieb und sie vor der Veröffentlichung seinen Freunden zur Überarbeitung gab, erscheint hier als Vertreter der Berliner Bohème. Seine abenteuerliche Natur und ein Mangel an moralischen Hemmungen waren die Ursache für den Tod von zwei ihm nahestehenden Frauen. Schwab schreibt, Przybyszewski sei nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum „polnischen Nationalisten“ geworden, was für mich eine große Vereinfachung ist.
Polen als Staat existierte zu dieser Zeit nicht, und erst dieser Krieg schuf die Chance für seine Wiederentstehung nach 123 Jahren, als seine drei Besatzer gegeneinander vorgingen. Es war daher normal, dass sich in vielen Polen, die sich zuvor nicht für Politik interessiert hatten, patriotische Gefühle wach wurden. Also begannen sie, sich für die Wiedererlangung der Unabhängigkeit ihrer Heimat einzusetzen und diese in den wiedergewonnenen Gebieten zu konsolidieren. Przybyszewski war da keine Ausnahme, und das hatte nichts mit Nationalismus im negativen Sinne zu tun.
Als gebürtige Krakauerin habe ich dieses Buch mit Nostalgie gelesen, weil in meiner Heimatstadt das Fin de Siècle besonders fruchtbar bei herausragenden Künstlern war. Angeregt durch die Lektüre habe ich mir den Film Dagny von Haakon Sandoy aus dem Jahr 1977 wieder angesehen, in dem die norwegische Schauspielerin Lise Fjeldstad die Titelfigur brillant verkörpert. Die für die damalige Zeit ungewöhnliche polnisch-norwegische Produktion, in Zusammenarbeit mit der DEFA, erzählt die Geschichte von der norwegischen Pianistin und Schriftstellerin Dagny Juel, von ihrer Ankunft in Berlin, wo sie ein Klavierstudium am dortigen Konservatorium aufnahm, bis zu ihrem tragischen Tod in Tbilissi.
Die Künstlerin war zunächst mit Edvard Munch liiert, der sie in die Kreise der Berliner Bohème einführte. Dort lernte Dagny Stanisław Przybyszewski kennen, den sie heiratete. Diese Rolle spielt Daniel Olbrychski, der aus solchen internationalen Produktionen wie Rosa Luxemburg und Salt bekannt ist.
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