„Sehnsucht nach Unendlichkeit“: Jan Assmanns „Kult und Kunst“ – mehr als ein Musik-Buch

Buchbesprechung: Jan Assmann, Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst.

Das Corona-verseuchte Beethoven-Jahr ist in die Verlängerung gegangen. Klar, Tausende von Festkonzerten, gut vorbereitete Zyklen mit den Symphonien, den Klaviersonaten und allen anderen Werken aus dem Œuvre des „Mega-Stars der Klassik“, wie Kulturstaatsministerin Monika Grütters beim Bonner Festakt am 16. Dezember 2021 den zweifellos berühmtesten Sohn der Stadt nannte, sind weltweit ausgefallen oder verschoben worden.

Hat es deshalb ein Beethoven-Vakuum gegeben? Hatte irgendjemand tatsächlich den Eindruck, 2020 unter einer „Ludwig-van-Unterversorgung“ zu leiden?

von Dr. Andreas Ströbl

Hanjo Kesting empfahl in der Sendung vom 13. Dezember 2020 aus den „Glaubenssachen“ in NDR Kultur sogar ein Jahr der Nichtaufführung gerade der Symphonien, „um sie vor weiterer Abnutzung und restlosem Verbrauch zu schützen“. Im Übrigen wurde ungeachtet dieses ausgesprochen empfehlenswerten, anspruchsvollen Formats dieser Reihe am Sonntagmorgen um 8.40 Uhr, die ungemein vielfältig und kritisch Inhalte von Religion im weitesten und engeren Sinne behandelt, auch dieser Sender nicht müde, die tatsächlich bereits bis fast zur Beliebigkeit abgenutzten Pop-Stücke Beethovens wie den 1. Satz der 5. Symphonie, die „Pastorale“, den Schlusschor der 9. Symphonie, das Albumblatt „Für Elise“, die Mondscheinsonate und das 5. Klavierkonzert in ripetizione bis zur Ermattung zu bringen.

Reichlich Literatur gab es auch, wobei vor allem Jan Caeyers „Beethoven – Der einsame Revolutionär“ (München 2020) nennenswert heraussticht. Diese Biographie ist ebensolch ein Buch, das als Teil der Beethoven-Rezeption über das Jahr 2020 hinaus mit Sicherheit gelesen wird wie Jan Assmanns „Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst“.

Dieser Publikation ist in der Kritik mitunter vorgeworfen worden, zwei Blöcke, nämlich einen zu Kult- und Liturgiegeschichte einerseits und einen werkmonographischen andererseits ohne wirkliche Verbindung nebeneinandergestellt zu haben. Das ist aber stark verkürzt, ja falsch dargestellt.

In der Tat hat sich der Ägyptologe Assmann an kein geringeres Problem gesetzt, die Missa Solemnis in den Zusammenhang einer jahrtausendealten Gottesdienst-Tradition bzw. deren Genese zu setzen, welches Unterfangen er auch selbst als „abenteuerlich“ bezeichnet (S. 14). Aber sein Bild der Tunnelbohrung durch einen Berg, auf dessen einer Seite das Jerusalem Jesu (inbegriffen der altjüdische Hintergrund in seiner kultur- und religionshistorischen Verbindung mit dem alten Ägypten) und auf dessen anderer Seite das Wien Beethovens liegt, trifft nicht nur den Anspruch des Buches; diese religions- und musikgeschichtliche Bergmannsarbeit ist Assmann auch gelungen. Es ist hier eben beim Lesen etwas dialektische Bereitschaft und das Interesse an wirklich tiefem Schürfen im Begriff des Kultischen gefordert.

Natürlich hält man hier einen echten Assmann in der Hand, weil er seine umfassenden und detaillierten religionswissenschaftlichen Kenntnisse einsetzt, aber gerade darin liegt die Qualität seiner Untersuchung: So ist Beethovens Missa bislang noch nicht betrachtet, ja in ihrem ureigensten Charakter als musikgewordener Gottesdienst erhellt worden. Aufgrund der Verbindung zwischen eigenständiger Kunst und der sakralen Einbettung bzw. dem Hinauswachsen des Werks daraus stellt der Autor sie Michelangelos Moses an die Seite.

Zuvor jedoch verdeutlicht er, wie ursprünglich Kult und Kunst nicht nur zusammenhängen, sondern wie Tempel, Kultobjekte und Rituale im Gottesdienst des ägyptischen und griechischen Altertums zu Kunstformen wurden. Das Christentum ist aber offenbar noch einen Schritt weiter gegangen, denn hier haben sich laut Assmann die künstlerischen Formen bis zur Eigenständigkeit von ihren kultischen Ursprüngen emanzipiert.

Als „Grundmotiv“ jeglichen Kultus begreift er das „Gegenwärtigmachen des Heiligen“. Das ist ein zentraler Aspekt, denn – auf Strawinsky rekurrierend – begreift Assmann die Musik als die Kunst, „die wie keine andere Gegenwart konstituiert“ (S. 110). Dies ist nur ein wesentlicher Gesichtspunkt, den er leitmotivisch immer wieder aufgreift; ein anderer ist das Bild der Himmelspforten, deren ideengeschichtliche Vorgänger er in den ägyptischen Tempeltoren sieht. Zudem verweist er in seiner ausgiebigen religionswissenschaftlichen Exposition immer wieder auf Beethoven und baut mehr als nur eine Brücke zwischen Antike und Früher Neuzeit. Oder um es mit seinem eigenen Bild zu sagen: Er schlägt mehrere Stollen durch den Berg.

Einer dieser Stollen ist seine Darstellung des Ordinarium Missae, also sozusagen des „Librettos“ der Messe, vor dem Hintergrund der Entstehung und Entwicklung der abendländischen Musik überhaupt und der systemimmanenten Wendung von der religiösen Kunst hin zur Kunstreligion. Diesen Wendepunkt vollführt laut Assmann die Romantik, denn ab dieser Epoche erstehen die Künste nicht mehr aus dem Kultus, sondern: „Die Kunst evoziert und beflügelt die religiösen Gefühle in einer Intensität, die der Kult nicht mehr aufbringen kann. Die Kunst will nicht länger im Dienst des Kults stehen, sondern selbst heilig sein“ (S. 132). Und hier betritt Beethoven die musikalische Bühne, der in seiner Missa seine eher philosophische Gottesvorstellung mit dem Gottesbegriff, der der katholischen Messe zugrunde liegt, aussöhnt. Er wollte das Werk so mit religiösen Empfindungen aufladen, daß sich sowohl in den Köpfen als auch Herzen des Auditoriums ein Gottesdienst im Konzertsaal ereignen sollte.

In der detaillierten Werkbeschreibung mit zahlreichen Notenbeispielen und haarfeinen Analysen belegt Assmann seine profunde Kenntnis von Form und Partitur des Werks und rekurriert folgerichtig auf seine Ausführungen in den vorangegangenen Kapiteln. Wer Augen hat zu hören bzw. Noten zu lesen und seinem inneren Ohr zum Tönen zu bringen, dem führt der Autor auf, wie Beethoven seine religiöse Programmatik zum Klang werden lässt. Virtuos schlägt er dann wieder den Bogen zur kulturwissenschaftlichen Begriffswelt, indem er auf die Objektivität der Größen Gattung, Typus und Form verweist und sie in den Rahmen des kulturellen Gedächtnisses setzt, der dem individuellen Schaffen übergeordnet ist. Und da wäre Assmann auch schon beim gleichaltrigen Hegel (dessen ebenfalls 250. Geburtstag neben Beethovens und Hölderlins Jubiläen etwas in den Schatten geraten ist) und seinem Begriff des „absoluten Geistes“. Das „liturgische Gedächtnis“ ist dem Kulturwissenschaftler wahrscheinlich weniger geläufig, aber eine soziopsychologische Größe, die im Falle von Beethovens Missa ebenso wie bei jeder anderen entsprechenden Komposition angemessen beleuchtet werden muss. Assmanns Anliegen ist, exakt dies aufzuzeigen: die Liturgie, die dem Werk zugrunde liegt, entstammt einer jahrtausendealten Entwicklung, deren Anfänge weit vor dem Entstehen der musikalischen Gattung liegen.

„Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“ war Beethovens Ziel, als er die Missa komponierte, das Heilige empfindbar zu machen, was in der Tat als sakraler Impetus überreligiös und zeitübergreifend ist.

Thomas Manns „Doktor Faustus“ ist eine weitere Wegmarke in der Beethoven-Rezeption und so nimmt es nicht wunder, daß Assmann zum Ende seines Buches auf diesen späten Roman Manns mit seinen analytischen Wahrnehmungen Beethovenscher Werke zu sprechen kommt und die hierin diskutierte Problematik der „Trennung der Kunst vom liturgisch Ganzen“ aufgreift (S. 235).

Der Missa als „Schwesterwerk“ ist die 9. Symphonie, um mit Hölderlin zu sprechen, „harmonisch entgegengesetzt“, denn sie hat als weltliches Werk mittlerweile liturgischen Rang erreicht, bis hin zur Erhöhung zur Hymne der Europäischen Union. Jahrzehntelang entsprach sie Bachs Weihnachtsoratorium gleichsam als überreligiöses musikalisches Silvesterritual des deutschen Bildungsbürgertums. Den Schlusschor der „9.“ kennt sicher der größte Teil der Menschheit. Der Missa einen angemessenen Platz nicht nur in der Beethoven-Rezeption anzumessen, sondern sie als das wahrzunehmen, was sie ist, liegt Assmanns Publikation zugrunde: „Gottesdienst ohne Kirche, reiner Ausdruck religiöser Empfindungen“ (S. 238).

Das Buch regt an, Beethovens Missa Solemnis vor dem Hintergrund einer mehrtausendjährigen Kultur- und Religionsgeschichte neu zu hören.

Dr. Andreas Ströbl, 23. Juli 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at


Jan Assmann, Kult und Kunst – Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst. C.H. Beck, München 2020, 272 S., 50 Notenbeispiele, € 28,00, ISBN: 978-3-406-75558-3

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