Mahlers letzter Satz? Ein komplizierter Mann am Ende seines Lebens

Buchbesprechung: Robert Seethaler, Der letzte Satz

Buchbesprechung: Robert Seethaler, Der letzte Satz

Hanser Verlag, Berlin 2020, 126 S., € 19,00, ISBN: 978-3-446-26788-6

von Dr. Andreas Ströbl, Lübeck

Der Titel von Seethalers Buch spielt doppelbödig auf eine Anekdote in Gustav Mahlers Leben im Jahr 1896 an. Während eines Spazierganges an der Traun hatte der alte Brahms ein Jahr vor seinem Tod dem 36-jährigen Mahler gegenüber das Ende der Musik herbei-apokalyptisiert. „Wir sind die Letzten“, soll „der Alte“, wie Mahler ihn Freunden gegenüber nannte, geknurrt haben. Seines eigenen Schaffens bewusst und klug genug, um die Welt- und Zeitläufte zu wissen, zeigte Mahler auf den Fluss und rief: „Sehen Sie doch, Herr Doktor, dort fließt die letzte Welle!“.

Diejenigen, die Gustav Mahlers Musik lieben und sich mit dem Menschen Mahler intensiv auseinandergesetzt haben, erkennen die Anspielung sofort und erwarten bei einem neuen Mahler-Buch eine ebenfalls neue, unbekannte Welle in der reichhaltigen Rezeption. Leser, denen der Komponist am Scheideweg zwischen groß- ja größtangelegter spätromantischer Symphonik und visionärer Wegweisung in die Moderne noch unbekannt ist, erhoffen sich möglicherweise eine intime erste Begegnung mit diesem Ausnahmekomponisten, dessen „ergreifendes Porträt“ in der Hand zu halten der Rückentext verspricht.

Beide Gruppen bedient Seethaler nur bedingt. Was Mahlers Musik ausmacht, ist musikgewordene Seelentiefe, existentielle Erschütterung, das Ringen um Größe und Schönheit, immer wieder gebrochen durch das Spiel mit dem Banalen, tiefste Verzweiflung bis zur Katastrophe und die mal kindliche, mal erhaben-ernste Sehnsucht nach dem Himmlisch-Höchsten. Darunter braucht man nicht anzufangen, wenn man Gustav Mahler ernstnehmen will.

Robert Seethaler hatte sicher nicht im Sinn, den Menschen Gustav Mahler und sein Werk in einem kurzen Roman von 117 Seiten Text fassbar zu machen. „Der letzte Satz“ liest sich ein bisschen wie ein erweitertes Drehbuch zu einem Film über einen komplizierten Mann am Ende seines Lebens, der die einschneidendsten Erlebnisse Revue passieren lässt. Persönliche Erinnerungen wie aus der Ich-Perspektive und Beobachtungen von außen wechseln sich ständig ab, aber das ist völlig legitim.

Das schwierige Verhältnis zu seiner Frau Alma, die ja nachweislich reihenweise prominente Männer in jeglicher Hinsicht um den Verstand gebracht hat, erzählt Seethaler vor allem durch Dialoge, die nicht immer ganz lebensecht wirken. Auch das trägt zum Eindruck des Filmdrehbuchs bei; in den allerwenigsten Filmen sprechen die Menschen ja so natürlich wie in der Realität.

Alma Mahler-Werfel, geb. Schindler (vor 1899)

Mahlers tödliche Herzkrankheit, der entsetzliche Verlust seiner ersten Tochter Maria und das Zerwürfnis mit der Wiener Hofoper – solche Schicksalsschläge, die den „Helden“ fällen, hatte Mahler in seiner 6. Symphonie nach Ansicht seiner Frau vorausgeahnt und selbstverständlich kann Seethaler hier nicht, wie im letzten Satz dieser großen Symphonie des „Nein“, um mit Bruno Walter zu sprechen, mit dem riesigen Holzhammer auf die Pauke hauen. Er bildet all diese Aspekte, die den feinnervigen Mahler zerrüttet und letztlich umgebracht haben, in der eher leisen Retrospektive ab.

Ironische Distanz und einen erfrischenden Realismus beweist Seethaler in der Episode, als Mahler bei Rodin Modell sitzt und, zappelig wie er ist, einfach kein dankbares lebendes Vorbild für das bronzene Abbild abgibt. Das ist etwas ganz anderes als die Schilderung der großen Szene, wo zwei Titanen einander begegnen und der berühmte Bildhauer es tatsächlich schafft, das Antlitz des Tonbildners in all seiner Tiefe und Zerrissenheit für die Ewigkeit in Erz zu gießen. „Tais-toi, putain!“, haut der genervte Rodin dem ungeduldigen Modell um die Ohren, was „Halt die Klappe, verdammt!“ heißt und nicht „Wollen Maestro höflicherweise etwas ruhiger sitzen“. Gut, dass Gustav und Alma offenbar kein Französisch sprechen.

So menschlich-humorig Seethaler diese Szene entwirft, so unentschieden bleibt er in der Darstellung der Begegnung mit Sigmund Freud. Dabei hat Seethaler durchaus das Talent, komplexe Seelenzustände in einem Satz abzubilden. Das düstere, allesbeherrschende Gespenst der Eifersucht, das Mahler ganz und völlig zu Recht ergreift, ist auch noch da, als der Architekt Walter Gropius, mit dem Alma eine Affäre hat, Toblach wieder verlassen hat, wo er seine verheiratete Geliebte aufgesucht hatte: „Der Andere war fürs Erste weg, doch es war, als ob seine schmale Gestalt immer noch einen Schatten warf, der das ganze Tal bis hinauf zu den karstigen Felsbrüchen verdunkelte.“ So könnte sich das anfühlen, wenn man das Objekt seiner Liebe teilen muss. Aber mit etwas mehr als dem starken Mutterbezug, den Freud Mahler nachweislich attestiert hatte, hätte Seethaler das Gespräch mit dem Erforscher der Seele und dem Komponisten des Seelischen, gerne auch offen spekulativ, füllen dürfen.

Gustav Mahler, 1909

Leitmotivisch durchzieht das Buch immer wieder ein Vogel, stets ein anderer. Das entspricht Mahlers Liebe zur Natur und vor allem den Naturlauten, die in seinen Symphonien und Liedern immer wieder erklingen. Gerade die Waldvögel, voran der Kuckuck, geben der 1. Symphonie den dunkelgrünen, volksliedhaften Ton. Der „Abholer“, dessen Ruf, wie im Buch beschrieben, eine „große Quart und eine kleine Terz aufwärts“ bildet (Seethaler meint wahrscheinlich eine „übermäßige Quart“), dürfte ein weiblicher Waldkauz sein, auch „Totenvogel“ genannt, weil sein „kuwitt“ im Volksglauben als „komm mit!“ gedeutet wurde.

Mehr als Leitmotiv, ja eher als Geleitfigur auf der letzten Reise entwirft Seethaler den Schiffsjungen, der den „Herrn Direktor“ mit Tee, kleinen Erzählungen, rührend sorgsamen Ermahnungen und manchmal etwas altklug erscheinenden Lebensweisheiten bedient. Dieser Junge ist dem todkranken Meister nahe, er ist ehrlich zu ihm und Mahler ertappt sich einmal dabei, dass er von ihm gemocht sein will. Das ist weitab von aufgeladener Schwülstigkeit und hat mit Homoerotik absolut nichts zu tun.

Dennoch hört der Mahler-Kenner assoziativ drängend immer wieder das Adagietto aus der 5. Symphonie und fragt sich, ob der Schiffsjunge nicht doch ein bisschen Ähnlichkeit mit Björn Andrésen aus Viscontis Verfilmung von „Tod in Venedig“ haben könnte. Entsprechend dem Ende von Thomas Manns Novelle, in der „eine respektvoll erschütterte Welt“ vom Ableben des großen Schriftstellers Gustav von Aschenbach erfährt, liest der Schiffsjunge am Schluss von Seethalers Buch später vom Tod Gustav Mahlers in der Zeitung. Perspektivwechsel – Änderung der Kameraeinstellung und des Erzählerstandpunktes. Am Ende ist nicht klar, wer die Geschichte erzählt. Vielleicht macht das auch gar nichts.

Der tatsächlich letzte Satz, „Und das war gut, denn es war Zeit, zu gehen“ mag grundsätzlich ein guter Schluss-Satz sein. Ein Buch aber, in dem man Gustav Mahler wirklich begegnen will, könnte, ja sollte anders enden. Ein Finale wie das der 3. Symphonie, die gar nicht enden will, so viel wird in ihr erzählt, passt sicher nicht zum Ende dieses Komponisten. Eher ein Ausblick in das Unendliche, wie das in die weite Ferne, immer leiser klingende letzte Wort des „Liedes von der Erde“: „…ewig…ewig…“

Dr. Andreas Ströbl, 25. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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