Buchrezension:
Axel Brüggemann: „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft. Wie wir unsere Musikkultur retten.“
Frankfurter Allgemeine Buch
von Leander Bull
Die Welt ist Bühne geworden. So schreibt es nicht nur Guy Debord, sondern auch der sich auf ihn beziehende Axel Brüggemann in seinem neuen Buch „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft. Wie wir unsere Musikkultur retten“. Der Essay greift aktuelle Debatten rund um den Zustand der Oper sowie des Theaters auf, wobei Brüggemann sich nicht scheut, auch Betrachtungen auf unsere Kulturszene im Ganzen vorzunehmen. Kunst und Kultur, so Brüggemann, drohen heute in zwei polare Richtungen abzudriften. Da sei zum Einen die „sterbende Generation“, die konservativ das zeitlose, unpolitische Theater bewahren will, gegenüber der „letzten Generation“, die das Theater als Debattenort aufgegeben hat und den politischen Streit auf der Straße inszeniert.
Was auf diese Diagnose folgt, sind rund zweihundertvierzig Seiten, auf denen vielmehr bekannte Konflikte aufbereitet, als gelöst werden. Der Essay dient weniger dem Zweck, einen neuen Weg aufzuzeigen, sondern eher als Zündfeuer für Debatten. Denn genau in diesem Streit zwischen „sterbender“ und „letzter“ Generation, diesem „ästhetischen Schlachtfeld“, wie Brüggemann es nennt, liegt die Legitimation der Kultur.
Referenzen zur griechischen Antike sowie zu risikofreudigen Theaterprojekten wie denen Christoph Schlingensiefs zeigen auf, welche Funktion Theater und somit Oper für Brüggemann verloren haben und zurückgewinnen sollen. Das Theater müsse wieder der Ort sein, an dem öffentliche Debatten ausgetragen werden können – nicht nur, da man diese Aufgabe nicht Markus Lanz überlassen sollte, sondern auch weil im Theater eine „Erweiterung der Wirklichkeit“ vorgenommen werden kann, das „Unvorstellbare auf der Bühne vorgestellt, das Undenkbare gedacht, das Individuelle verallgemeinert, das Kleine vergrößert und die Realität um neue Perspektiven erweitert“ werden kann.
Wie genau das aussehen soll, bleibt jedoch oft unklar. Gewiss, Brüggemann ist Journalist, kein Künstler und muss somit keine ästhetischen Lösungen anbieten, doch wenn bei ihm so oft von der Notwendigkeit die Rede ist, Oper und Theater müssten sich wieder wagen, „Neues auszuprobieren“, bleibt oft die Frage offen, wie das Ganze aussehen soll. Digitale Medien seien, so Brüggemann, keine Feinde, sondern bieten das Potenzial für neue Möglichkeiten. Ob dem so ist, bleibt jedoch fragwürdig.
Gewiss bieten Videoprojektionen und Ähnliches viele neue ästhetische Möglichkeiten, wie es beispielsweise Kirill Serebrennikov in seinen überbordenden Regiearbeiten zeigt. Wenn Brüggemann jedoch meint, die Theater müssten zunehmend auch den digitalen Raum jenseits der Bühnen bespielen – ganz nach dem Credo „Theater ist überall!“ – bleibt fragwürdig, ob die Unterscheidung zwischen Bühne und Wirklichkeit nicht bewahrenswert ist. Im Theater ist alles möglich: der Schein wird zum Sein, Identitäten werden aufgebrochen, Zwischenräume werden geschaffen und die heute so oft beschworene „Authentizität“ verschwindet im Sog einer radikalen Künstlichkeit. „In Zeiten der Neurose und der niederen Sinnlichkeit“ ist das Theater, so schrieb es Antonin Artaud, „der einzige Ort auf der Welt und das letzte umfassende Mittel, das uns noch verbleibt, den Organismus direkt zu erreichen“. Könnte die Bühne nicht das beständige Leuchtfeuer der Kunst in einer zunehmend ungreifbaren Welt sein?
Schließlich sehen wir das Theater in einer Krise gerade weil die Wirklichkeit immer mehr inszenatorischen Charakter annimmt. Genau hier liegt jedoch eine große Schwäche des Buches; Brüggemanns Ausführungen zur Medialisierung des Musiktheaters wirken unbedacht, wenn er verkennt, dass klassische Musik vielleicht mit den Konzepten von Plattformen wie TikTok & Co. inhärent unvereinbar ist. Schließlich ist die digitale Aufmerksamkeitsökonomie, stets ausgerichtet auf das Ausschlachten möglichst reißerischer, kurzer Informationshäppchen, wahrscheinlich nur schwer mit einer Kunstform, in der eine Oper schon mal fünf Stunden dauern kann, vereinbar. Brüggemann selbst kritisiert an anderen Stellen unter dem Begriff der „Pornografisierung der Klassik“ treffsicher die fragwürdigen Kompromisse von Klassik-Künstlern zugunsten Aufmerksamkeitsgenerierung via Social Media und fordert zu Recht die Rückkehr zu einer „Erotik der Klassik“. Theater, Opernhäuser und Orchester dürfen laut ihm „nicht zu Institutionen verkommen, deren einzige Legitimation es ist, dass es sie schon immer gegeben hat“.
Nun ja, sie dürfen aber ebenso nicht unter einem konstanten Rechtfertigungsdruck stehen, wie Kunst und Geisteswissenschaften es heute generell tun, sofern sie nicht direkt verwertbar sind. Dass das Theater schon seit Ewigkeiten besteht, kann sicherlich nicht das einzige Legitimationsargument für seine Existenz sein, doch es ist ganz gewiss eines, welches ernst zu nehmen ist. Sowieso: Falls ich jemals TikTok-Challenges sehe, bei denen zum Liebestod herumgesprungen wird, ziehe ich wirklich in den Urwald.
Ein weiterer blinder Fleck des Werks ist die fehlende ökonomische Perspektive auf das Klassik-Publikum. Einerseits adressiert Brüggemann das demografische Problem unserer „Altenrepublik“, wie der Soziologe Stefan Schulz die Bundesrepublik nennt: Auf eine 16-jährige Person kommen in einem deutschen Theater mindestens drei bis vier 60-jährige. Auch behauptet Brüggemann, dass die allgemeine Teilhabe an Theater und Musik „seit der Antike immer weiter eingeschränkt“ wurde. Andererseits klammert er die ökonomische Kluft zwischen jung und alt fast gänzlich aus.
Wenn Kinderarmut im selben Maße wächst, wie die politische Unwilligkeit, etwas dagegen zu tun, wenn jeder dritte Student in Armut lebt, ist dann die Polarisierung in eine „Zwei-Klassik-Gesellschaft“ überhaupt überraschend? Als junger Mensch in die Oper zu gehen erfordert – mal mehr, mal weniger berechtigt – Demut; Demut gegenüber altehrwürdiger Kunst, Demut gegenüber sozialen und kulturellen Codes. Dass viele junge Leute heute nicht mehr bereit sind, dieses Maß an Bescheidenheit aufzubringen, liegt sicherlich auch daran, dass sie selten von tradierten politischen und kulturellen Institutionen das Gefühl bekommen, von ihnen ernst genommen zu werden. Ähnlich geht es mir immer, wenn Operngänger allen Ernstes auf einem 250-Euro-schweren Platz sitzen und davon sprechen, wie die „modernen Inszenierungen“ das Theater immer unzugänglicher machen würden.
Andernorts jedoch trifft Brüggemanns Analyse der deutschen Theaterkultur den Nagel auf den Kopf. Viele Operngänger begreifen aufgrund der teuren Karten, sowie des Steuersystems die Bühne zunehmend als ein, wie er es nennt, „ästhetisches Dienstleistungsunternehmen“ – wohl einer der schlimmsten Auswüchse der Kulturindustrie. Wer verlangt, das Theater müsse aufgrund einer finanziellen Beziehung lediglich leichte Kost liefern, die bitteschön auch so harmlos und verdaubar wie irgend möglich sein soll, bewegt sich eher im Bereich von „Sturm der Liebe“ als von „Tristan und Isolde“. Ideenreichtum und gute Unterhaltung zu vereinen ist gewiss das Merkmal großer Kunst, dennoch: „Der Kunde ist König“ mag ein treffendes Credo für Marvelfilme sein, doch schweigen wir lieber von ihm, wenn es um Kunst geht.
Auch das international seltene System der staatlichen Förderung von Opernhäusern und Theatern beleuchtet Brüggemann nuanciert. „Unbedingt schützenswert“ sei dieses System, gewiss, doch gerade deswegen brauche es eine Legitimationsdebatte, damit der Wert von Kunst und Kultur in der breiten Öffentlichkeit anerkannt wird. Versuche, Kritik an diesem Ansatz bereits im Keim zu ersticken, können nur das Gegenteil hervorbringen. Nicht alle Menschen müssten, so Brüggemann, Veranstaltungstermine in Kunst und Kultur wahrnehmen, doch diese müssten in die Gesellschaft „hinein strahlen, sodass möglichst vielen Menschen bewusst wird, dass Kultur zur Grundversorgung gehört“. Was außerdem nicht ginge, und da kann man ihm nur zustimmen, „ist unseren Theatern die finanziellen Daumenschrauben anzulegen und gleichzeitig zu erwarten, dass sie in ihrer finanziellen Notlage noch kreativ werden“.
Stark ist ebenfalls Brüggemanns Ausarbeitung der Rolle von uns Musikkritikern. Verweise auf Shaw, Nietzsche und Adorno rufen ins Gedächtnis, was Musikkritik alles kann – jenseits eines bloßen Nacherzählens eines Konzertabends. Dass Kritik nicht lediglich als „Dienstleister der Arbeit der Künstler“ verstanden werden kann, verdeutlicht, dass die Musikkritik sich heute wieder zu einer eigenständigen, autonomen Funktion erheben muss. Inwiefern die Lage aufgrund von unterfinanzierten Kulturredaktionen noch verschlechtert wird, verdeutlicht erneut die Notwendigkeit, schonungslos die Frage nach dem Geld zu stellen.
Und ja, unser wertes klassik-begeistert selbst wird von Brüggemann ebenfalls erwähnt. Gewiss verkennt er das Potenzial unabhängiger Musikblogs, nicht zuletzt, da wir glücklicherweise keine verstümmelnden Längevorgaben bei Artikeln beachten müssen und uns somit voll und ganz der Sache selbst widmen können. Gleichermaßen aber ist an seiner Beobachtung ja sonst nicht viel auszusetzen, wenn er lediglich behauptet, dass es sich bei dieser „Entprofessionalisierung der Kritik“ – was vielmehr ein Fakt, als ein Werteurteil ist – um „leidenschaftliche Amateurkritik-Seiten“ handelt, „auf denen Menschen ihre Liebe […] mit großen Fachwissen debattieren“. Diese Passage ist sicherlich als Lob zu verstehen, Brüggemann beleuchtet nebenbei lediglich die Notwendigkeit von professioneller, gut bezahlter Kritik im konventionellen Format. Die Relevanz des Kulturjournalismus muss wieder gestärkt werden – Opernkritiker der FAZ gehören ebenso dazu, wie die „Nerds“ von klassik-begeistert.
Kultur schafft, so Brüggemann, Freiräume für Debatten, die andernorts „unmöglich“ erscheinen: „Kultur bedeutet immer auch die Institutionalisierung der Unsicherheit und des Ungewissen“. Letzten Endes gilt es, den Streit zu kultivieren – nicht nur, um die Verhärtung der Fronten in eine „Zwei-Klassik-Gesellschaft“ zu verhindern, sondern auch, um sie nicht lediglich bieder zu versöhnen, wirklich nach neuen künstlerisches Ausdrucksformen zu suchen. Womit die Theater und Opernhäuser gut beraten sind, ist der Versuch, wieder Zwischenräume zu schaffen; Zwischenräume jenseits von Gut und Böse, jenseits von einfallslosem Opernkitsch in der Semperoper einerseits und belehrendem Regietheater in Berlin andererseits – zurück zu einer Kunst, die wieder den „spielerischen, lyrischen den experimentellen und den zuweilen auch ungreifbaren Charakter zum Teil der politischen Aktion“ macht. Blicken wir in die Vergangenheit und tragen wir sie in die Zukunft, streiten wir.
Leander Bull, 31. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Axel Brüggemann, Die-Zwei-Klassik-Gesellschaft klassik-begeistert, 26. September 2023
Pathys Stehplatz (14) – Brüggemann rüttelt am Currentzis-Bollwerk, klassik-begeistert.de
Interview mit Axel Brüggemann zum Film „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt“
„Gleichermaßen aber ist an seiner Beobachtung ja sonst nicht viel auszusetzen, wenn er lediglich behauptet, dass es sich bei dieser „Entprofessionalisierung der Kritik“ – was vielmehr ein Fakt, als ein Werteurteil ist – um „leidenschaftliche Amateurkritik-Seiten“ handelt, „auf denen Menschen ihre Liebe […] mit großen Fachwissen debattieren“.“
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Verzeihung, aber was für ein Stuss ist diese Aussage denn? Hier auf kb ist in meinen Augen eine überwiegende Mehrheit der Kritiker vom Fach – wir haben studierte Musiker, Wissenschaftler und professionelle Journalisten, viele von uns vereinen sogar mindestens 2 dieser Bereiche. Viele Beiträge, die ich hier lese, haben Hand und Fuß und erreichen eine Qualität, wie sie nicht einmal etablierte Medien wie die FAZ oder Süddeutsche für sich behaupten können. Ich weigere mich dementsprechend jedenfalls, mich mit dem Label des „leidenschaftlichen Amateurs“ oder des „Nerds“ abzufinden. Wofür studiere ich jetzt schon Jahre lang?
Da finde ich, dass diese Buchrezension unsere Arbeit auf kb zu Unrecht verkennt und herabwürdigt. Das kannst du besser, lieber Leander.
Grüße,
Daniel Janz
Lieber Daniel,
ich kann dich beruhigen, denn du musst dich weder von mir noch von Brüggemann angegriffen fühlen. Wie oben aufgeführt geht es bei besagter „Amateurhaftigkeit“ und „Entprofessionalisierung“ um den Bereich des Journalismus und nicht den der Musikwissenschaft. Die Rede ist von fehlenden journalistischen Standards. Das bedeutet weder, dass die Kritiken qualitative Mängel aufweisen, noch, dass sie inhaltlich oberflächlich wären – auch Brüggemann spricht von „großem Fachwissen“, für das du sicherlich nicht umsonst studiert hast. Sowieso: Wenn du dich wirklich von der Bezeichnung als „Nerd“ angegriffen oder gar herabgewürdigt (!) fühlst, kann ich dir nur empfehlen, nicht ganz so verbittert an die Sache ranzugehen!
Dass das Fehlen streng gesetzter journalistischer Standards Potenzial mit sich bringt, habe ich ja ebenfalls beleuchtet. Genau das ist doch die Stärke eines unabhängigen Blogs wie klassik-begeistert. Schließlich können detailreiche Texte, wie du sie schreibst, nur aufgrund fehlender Längerestriktionen entstehen. Brüggemann und ich untermalen lediglich die Tatsache, dass der Kulturjournalismus im konventionellen Format auch seinen Platz braucht und dabei natürlich wieder rentabel werden muss.
Was die Tiefe großer Teile des Musikjournalismus angeht, sind wir sicherlich einer Meinung.
Herzliche Grüße,
Leander Bull
Lieber Leander,
normalerweise sollte man dieses Geschwätz ABs geflissentlich übergehen; da es de facto Null Werthaltigkeit hat.
Nur hat mich Daniels Replik betroffen gemacht; er braucht sich nichts denken. Und bitte überbewertet Journalismus nicht allzu sehr.
Nicht jeder der Publizistik studiert hat, ist Journalist und nicht jeder, der journalistisch arbeitet, hat Publizistik studiert.
Noch während meines Wirtschaftsstudiums (Musik habe ich am Konservatorium parallel studiert) habe ich in einer führenden öst. Tageszeitung in der Wirtschaftsredaktion mitarbeiten können; auch zur Zufriedenheit des Ressortleiters.
Und durch viele Kontakte in der Wiener (bzw. österr.) „Musikszene“ habe ich mir ein passables Netzwerk aufbauen können – was hier einiges erleichtert.
Zurück zu Daniel und ABs Geschwätz – da sind mir Leute wie Daniel, die mit Herzblut und Engagement an die Sache herangehen, bei weitem lieber als so überhebliche Schwätzer, die versuchen, sich aus dem gerechtfertigten Schattendasein ins Licht zu rücken. Mehr gibt es auch hier im öffentlichen Forum nicht zu sagen; jedoch habe ich meine eigene Meinung dazu.
Lieber Daniel, liebe Seelengenossen – Journalist ist nicht der, der irgendwelche „Standards“, die eigentlich der Hausverstand vorgibt, einhaltet; das ist der, der den Menschen mit seiner persönlichen „Handschrift“ Wissen und Eindrücke vermitteln kann.
In diesem Sinne – immer weitermachen wie bisher und Herbert von Karajans Spruch „Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter“ beherzigen.
Herbert Hiess
Lieber Herr Hiess,
dem stimme ich im Grunde genommen vollständig zu. Nur ist manches, was ich auf klassik-begeistert lese, sichtlich an ein Publikum gerichtet, welches schon Hintergrund- und Fachwissen zur klassischen Musik mitbringt und somit beispielsweise schon weiß, dass Christian Thielemann göttergleich verehrt wird. Das ist, um bei den oben aufgeführten Beispielen zu bleiben, bei der FAZ nicht im selben Maße voraussetzungsreich. Aus diesem Grund spreche ich auch konventionellere Formate des Journalismus an.
Herzliche Grüße,
Leander Bull