Das Komponieren sakraler Musik sei wie Kartoffel schälen…

Buchrezension: Graphic Novel „Zwischen zwei Tönen“ über Arvo Pärt,  Klassik-begeistert.de

„Ich befreie die Kartoffel von ihrer Schale, der Interpret kocht sie und bringt sie zu Tisch, aber Gott ließ sie wachsen“, sagte Arvo Pärt als reifer Komponist. Solche tiefen Gedanken, wie auch suggestive Bilder befinden sich in der Comic-Biografie von einem der größten zeitgenössischen Komponisten.  Der Autor von der Graphic  Novel  „Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben des Arvo Pärt“  ist estnischer Comic-Künstler, Illustrator und Graphic Designer Joonas Sildre. Das Original erschien in Estland in 2018. Dieses Jahr hat Verlag Voland & Quist die deutsche Übersetzung des Buchs von Maximilian Murmann veröffentlicht.

Besprechung des Graphic Novels „Zwischen zwei Tönen“ über Arvo Pärt

 von Jolanta Łada-Zielke

In letzter Zeit ist es sehr populär, das Leben berühmter Persönlichkeiten in Form einer Graphic Novel zu präsentieren. Bisher erschienen solche Romane unter anderem über Agatha Christie, Jean-Paul Sartre und James Joyce. Die Geschichte von Arvo Pärt ist jedoch etwas Besonderes; zum einen, weil ihr Protagonist noch lebt, und zum anderen, weil der Biograph auch Pärts Musik grafisch darstellt. Die erzählte und gezeichnete Geschichte enthält tiefe, philosophische Gedanken, aber auch eine Prise Humor.

Vom Prolog erfahren wir Kindheit und Jugend von Pärt, von seinem ersten Kontakt mit der Musik („Der Lindenbaum“ von Franz Schubert, später Liszts „Präludien“) und einem traumatischen Erlebnis: Als die Rote Armee 1945 Rakvere – die Heimatstadt des Komponisten – plünderte, erledigte ein Soldat „seine Geschäfte“ in das Innere von Arvos Flügel. 1945 wird in Rackverde eine Musikschule gegründet. Arvos Mutter bringt ihn dorthin und sagt: „Mit Musik verdient man zwar kein Geld, aber im Leben wird sie dir von Nutzen sein“. Im Alter von 14 Jahren beschließt Pärt, Komponist zu werden.

Die nächsten drei Kapitel haben die Titel von Pärts Werken, die die Durchbruchsmomente in seinem Schaffen waren: „Credo“, „Silentium“ und „Tabula rasa“. Der Leser verfolgt die künstlerische Entwicklung des Komponisten von der Zwölftonmusik über Collagen bis hin zur Tintinnabuli –Technik (auf Lateinisch: Technik der kleinen Glöckchen). All dies führt zu einer immer stärkeren Beschränkung der Mittel und maximaler Einfachheit, zu dem Raum zwischen den im Titel erwähnten zwei Tönen.

Wir erfahren  von Arvos musikalischer Ausbildung, seiner ersten Arbeitsstelle als Tonmeister beim Radiorundfunksender Eesti, seinen Freundschaften, sowie Forschungen und musikalischen Faszinationen. Die Erzählung endet mit der erzwungenen Ausreise der Familie Pärt aus der Estnischen Republik der UdSSR (1980). Über das Schicksal des Komponisten im Ausland berichtet eine kurze Notiz auf der letzten Seite.

Joonas Sildre präsentiert Pärt als Menschen, der  nicht immer pünktlich ist und wiederkehrende Probleme mit seinen Nieren hat. Die Informationen über das Privatleben des Künstlers dosiert der Autor sparsam. Wir erfahren nicht, warum Pärts erste Ehe scheiterte. Mehr gibt es im Roman über seine zweite Frau Eleonora Supina, mit der ihn eine berufliche und spirituelle Beziehung verband.

Die Zeichnungen im Buch sind schwarz-weiß mit verschiedenen Grau- und Sepiatönen; es ist als ob man einen alten Schwarz-Weiß-Film gesehen hätte. Einige Bilder sind symbolisch, zum Beispiel ein Straßenmegaphon, durch das Eesti Radio sendet. Zuerst sehen wir ein paar verschiedene Einstellungen dieses Megaphons und erst dann die Information, dass der junge Arvo darunter steht und stundenlang der Sinfonieübertragung zuhört. Sildre präsentiert den Klang von Pärts Musikstücken mit wenigen Worten und mit viel Graphik, als wogende Notenzeilen und Punkte. Bei zwölftönigen Werken ist die Notenlinie zickzackförmig. Bei den musikalischen Collagen gibt es eine schwarze, zickzackförmige Notenlinie mit Punkten durch weiße Fragmente wie durch ein Gewebe ergänzt. Bei der Darstellung von „Tabula rasa“ sehen wir auf den Linien einen weißen und schwarzen Riesenpunkt, wie im Zentrum des Universums.

Und hier wird Sildre wahrscheinlich vom Komponisten selbst inspiriert, der in den Partituren grafische Zeichen verwendete, zum Beispiel  ein Teil der Spirale in „Perpetuum mobile“ als fortwährende Bewegung der Melodie von unten nach oben.

Zu Pärts Inspirationen zählen: die Kirchenmusik, die Texte der Wüstenväter und gregorianische Choräle, die er für die reinste, ursprünglichste Form frühchristlicher Musik hält. Aber Pärt spielt das nicht ab sondern schafft etwas völlig Neues. Sogar seine einstimmigen Melodien der Psalmen haben eine beispiellose Tiefe. Sein musikalisches Vorbild ist Bach und das außermusikalische – Jesus Christus. „Jede meine Note ist zur Ehre Gottes geschrieben“, pflegt der Komponist zu sagen.

Von den biblischen Helden schätzt er am meisten Sara, Abrahams Frau, die im hohen Alter einen Sohn zur Welt brachte. Diese Frau symbolisiert das Schicksal des Komponisten selbst, der dank seines starken Glaubens an das göttliche Eingreifen das Unmögliche erreichte. Pärt widmet dieser Figur sein Stück „Sara war neunzig Jahre alt”, das aus vier Tönen besteht.

Aufgrund seiner Kompositionen von geistlicher Musik und Verwendung der Technik, die die Kommunisten als „politisch inkorrekt“ ansehen, hat Arvo Pärt in seiner Heimat ein hartes Leben. Während des Komponistenwettbewerbs 1953 in Viljandi hält die Jury sein Stück für „weder sozialistisch in Inhalt noch national in der Form“. Pärts widmet sein „Nekrolog”  – das erste zwölftönige Werk Estlands – den Opfern des Faschismus. Man wirft ihm jedoch Formalismus und westliche Dekadenz vor.  Nach der Uraufführung seines Collage-Stückes „Credo“ in Tallin erhält Pärt ein Verbot, Konzertmusik zu schreiben. Daraufhin beschäftigt er sich mit Filmmusik, was ihm perfekt gelingt. Sildre gibt hier als Beispiel den Puppentrickfilm „Der kleine Motoroller“ von Heino Pars. Ich würde hinzufügen, dass Pärt auch die Musik für die polnisch-sowjetische Filmadaptation der Pilot-Pirx-Erzählungen von Stanisław Lem schrieb, in Deutschland bekannt als „Testflug zum Saturn“.

Ich empfehle dieses Buch vor allem den Freunden und Genießern der Musik von Arvo Pärt, die die grafischen Darstellungen seiner Werke mit ihrem tatsächlichen Klang vergleichen können. Außerdem erfahren sie auf interessante Weise etwas über sein Leben in der Sowjetunion. Die Fans der Graphic-Novel-Gattung sowie gläubige Menschen sollten in diesem Roman ebenfalls etwas Spannendes finden.

Manche „goldene Gedanken“ von Pärt eignen sich für eine Predigt in einem Gottesdienst für Musiker, zum Beispiel:  Ein Treffen der zwei Töne sei wie eine Begegnung zweier Personen. Ein Mensch ist kein Schöpfer, sondern Vermittler der Töne. Ein sorgfältiges Gebet stimmt die Seele wie ein Instrument.

Am meisten fasziniert mich jedoch der Vergleich des Komponierens mit dem Kartoffelschälen. Von nun an denke ich bei dieser prosaischen Tätigkeit an die Melodien von Arvo Pärts Werken.

Jolanta Łada-Zielke, 17. Dezember 2021, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at

Joonas Sildre „Zwischen zwei Tönen. Aus dem Leben des Arvo Pärt“
Aus dem Estnischen von Maximilian Murmann übersetzt
Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2021
ISBN 978-3-86391-281-9

 

 

 

 

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