Haralds Passionen IX:  „La Russie, mon amour“

Grab des Ballettdirektors Sergei Diaghilew, Friedhof Venedig auf der Insel San Michele © PetersTravel Peter Pohle

„Russen, die ich liebe !“

von Harald Nicolas Stazol

 „La Russie, mon amour“ – nur, wer einen Strawinsky so liebt wie diese Gabrielle Chanel, Spitzname Coco, den Auteur ganzer Suiten für die Ballets Russes, lässt es sich nicht nehmen, 1924 für „Le Train Bleu“ des Sergei Diaghilev die Kostüme zu entwerfen – derart reduziert und klar und für die damalige Zeit unerwartet karg, dass sie für Furore sorgen – allerdings sind die Tennishosen und das Badekostüm des armen Solisten Anton Dolin derart eng, dass er kaum seine Jétés tanzen kann.

Ich finde es im übrigen sehr interessant, dass in Europa „entre les guerres“, der viel zu kurzen Friedenszeit, mehr Internationalität herrschte, als es heute der Fall ist, oder zumindest zu sein scheint.

Denn nun tritt der reichste Mann des British Empire an, der Herzog von Westminster, und die größte Segelyacht der Welt, und die lässt er wenden, auf Bitten seiner geliebten Coco – neulich erst noch hat sie im Streit eine von ihm geschenkte Perlenkette über Bord geworfen – für schnellsten Kurs nach Venedig!

Hugh Grosvenor, 2. Duke of Westminster und Coco Chanel, Wikipedia

„Haralds Passionen IX:  „La Russie, mon amour“
klassikwelt-begeistert.de“
weiterlesen

Haralds Passionen VIII: Vom Faun zum Unberührbaren

Foto: Nurejew © Bundestheater-Holding GmbH, Helmut Koller

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol

Einmal, als Reporter bei der „Petra“, sah ich ein Photo von Nurejew ganz in schwarzem Leder vor dem Studio 54, in der W, einer US-Modezeitschrift, deren Exemplare heute Sammlerstücke sind. Ich ging damit zu Frau Fulda, unserer vornehmen Ressort-Sekretärin: Wussten Sie, dass er an der Met mal den Blumenstrauß einer Verehrerin zertrampelte, während er „I hate Women!“ schrie?“ Frau Fulda, nun ganz Hanseatin, fast träumerisch: Zu mir war er immer bezaubernd!

Herzklappenflimmern. Ein Scoop! Raus mit dem Block!!! „FRAU FULDA, SIE UND NUREJEW????“

Und es stellt sich heraus, manchmal fahren wir in meinem nachtblauen Audi Cabrio mittags mit Sandwiches um die Alster, damals ging das noch…, – und es stellt sich heraus, dass das junge Mädchen ihrem Idol weltweit hinterher reiste und sie Vertraute wurden, – „er hat mir Pasta gekocht…“

Der griechische Gott. Der russische Heilige.

Denn nichts anderes ist er nun, scheckig mit großen schwarzen Feldern auf nackter Haut, und einer Perücke, wie sie englische Anwälte des Queen’s Court am Old Bailey tragen, nur dass die des Fauns noch kleine Hörner aufweist, am Hinterkopf.

Der Faun erwacht, die Hände das ganze, 10-minütige Oeuvre lang, angewinkelt nach unten, wie man es von den Vasen der frühen Griechen kennt, und ist doch ein Faun meist durchaus erregt dargestellt, muss dies hier gar nicht sein, denn die Anspannung überträgt sich allein in dem Tanz der Nymphen, in deren schönste er sich verliebt.

Sie lässt ihm ein Tuch, und jedes wird ihm zum Objekt der Begierde, er legt sich auf seinen Schlaffelsen, und, nun ja, die schiere Lust überkommt ihn, man sieht also Rudolf Nurejew in einer Ekstase, wie er sie wohl nur noch im Studio 54 gehabt haben dürfte.

Und das alles 1913, in Paris, mit Vaslav Nijinsky, der ja real werden ließ, was Debussy nur intendierte, in einer Welt, die keine Woche vorher noch mit dem „Sacre“ einen letzten Warnruf haben hätten können, des Inhalts, – wir sind die letzten, bald ist alles vorbei!!!

Nun bleibt die Netrebko, und Gergiev. Hier nämlich beim Sacre, der feingliedrige Meister seines Fachs, beide unangefochten, nur sang sie für Putin, und er ist ein Fan.

Musica non olet.

Denn da ist dieser Moment im Marinsky, im Nussknacker, der an Pracht und duftigen Farben, an Glanzleistung über Glanzleistung so überreich, wie sonst nirgends, da nimmt Gergiev beim Blumenwalzer voll das Tempo raus, weil ein kleiner Élève sein Debut hat, damit der Junge in seinen für sein Alter schon stauenswerten Sprüngen hinterherkommt.

Es ist einer der zärtlichsten Momente meines Ballettwissens.

Alles Russland, alles Russen.

Rußland, mon amour.

Harald Nicolas Stazol, 14. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Haralds Passionen IX lesen Sie morgen, Freitag, 15. Juli 2022.

 

Haralds Passionen VII: das Corps de Ballet

Foto: Igor Strawinsky im Alter von 18 Jahren, de.wikipedia.org

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol

Il détruit le Clavier!” – er zerstört das Klavier, das sagten die Tänzer der Ballets Russes, als Igor Strawinsky seinen „Sacre de Printemps“ dem Corps de Ballet vorspielt.

Bei den Proben, und noch heute kann mein konservativer, bester Freund Jan diese Moderne nicht ertragen.

Ein Dîner gab es, an dem man gerne teilgenommen hätte, irgendwann im Jahr 1922: James Joyce, Marcel Proust, Picasso und Sergei Djagilew saßen zu Tisch, bei Pariser Mäzenen, und es soll in der Blüte einer ganzen Epoche stehen.

Djagilew ist ein Phänomen, das man seinesgleichen vielleicht nur noch in John Neumeier findet, aber das mag hanseatischer Patriotismus sein, – gebildet in den Soireen des alten russischen Reiches, beliebt, geliebt, und als es Russland hinwegfegt, bleibt er, der Verwöhnte, stammend aus einer alten Familie eher niedrigen Adels, übrig. So wie Prinz Youssopow, einer der Mörder Rasputins – wir erinnern uns, im Palais Youssupow spielte der Yankee Doodle auf einem Grammophon, als man den Zerstörer des Landes um die Ecke bringt, erst mit Arsen, dann schießt man, schließlich erschlägt der junge Kouragin den noch Wegkriechenden mit einer schweren Kette, sie werfen den Dämon in die Neva… nun der Prinz, der einen Rolls Royce eher hatte, als der junge, so unerfahrene Zar, – nun, er wird bald der beste Taxifahrer von ganz Paris sein, da ist Djagilew schon dort.

Recht eigentlich ist er immer schon dort, er weiß es nur noch nicht.

Denn als er mit seiner Balletttruppe dortselbst eintrifft, 1913, wird er epochal. „Haralds Passionen VII: Das Corps de Ballet
klassik-begeistert.de 13. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen VI: Shakespeare auf Russisch

„Russen, die ich liebe!“

 von Harald Nicolas Stazol

Der Tanz der Schwerter – wer würde, meinen 14-jährigen Ziehsohn Vince einbeziehend, bei so einer Headline nicht hineingezogen werden? Nun, Sergej Prokofjev schenkt es uns in Romeo und Julia: 

Im Marynski 1988 werfen die purpurnen Ritter Brokatkissen im Takte der schon ekstatisch zu nennenden Streicher, Ta-tata-ta-ta-Ta-TAA-Taa stilbildend, – bei Nurejew schwingt man fast gefährlich die Säbel, in einer anderen werfen sie Seidenkissen unter die Knie im Fallen. Und dem aufscheinenden Menuett der alten Capulets stehen jene Spalier, schon dort ist Ästhetizismus alter Schule, zutiefst russisch, möchte man sagen, ein Hof legt Ehre ein, “nothing succeeds like Excess” sagt Maggie Smith als Dowager Duchess of Grantham in Downton Abbey, als man versucht mit prächtiger Tafel das Geld von Shirley McLaine einzuheimsen – nun, in dieser Inszenierung spielt Geld keine Rolle.

Es beginnt mit dem ersten Bild, dem florentinischen Hof, ein Reiterstandbild, um das im fahl-blauen Morgenlichte die Erinnyen herumfliehen, und -fließen, und der Fürst die Todesstrafe verhängt für Kämpfe und Händel aller Art auf Straßen und Plätzen. (Händel: Streitereien, nicht Georg Friedrich).

Zum Glück aber ist das Mercutio und Prokofjev und Nurejew schließlich völlig egal, denn sonst säße man ja jetzt einfach im Dunkeln, und nichts würde mehr passieren. Tut es aber, und wie! „Haralds Passionen VI: Shakespeare auf Russisch
klassik-begeistert.de 12. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen V: Wenn Götter tanzen

Foto: https://de-academic.com/dic.nsf/dewiki

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol

Nach Paris, an die Opéra Garnier und im überreich-prächtigen Treppenhaus unter die Marquisen, wo Princesses und Komtessen in großer Toilette mengen – ein Empire-Entrée fast größer als der Zuschauerraum samt Bühne – das ist diese Kehrtwende in der Architekturgeschichte, wie mir vor 20 Jahren ein sehr ergriffener Opernregie-Student beim Konservatoriumskonzert erläutert, ab da das gesellschaftliche Sehen und Gesehen werden wichtiger wurde, als die Aufführung – nun also die Marmortreppen hinauf, hier mögen sich Wagner und Meyerbeer angebrüllt haben, oh, dort drüben entschwindet gerade Kaiserin Eugenie…

154 Tänzer und Tänzerinnen hat man in Paris zur Verfügung, in Worten Einhundertvierundfünfzig! Fast unmöglicher Zufall, reine serendipity, lässt mich bei einem Abendessen en famille in der französischen Vogue blättern, mit einem Ballettportrait, da steht diese unglaubliche Zahl! Was wohl Covent Garden so aufbietet? „Genügend“ wird es aus London heißen, genau wie die PS beim Rolls Royce. „Haralds Passionen V: Wenn Götter tanzen
klassik-begeistert.de 11. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen IV: Von der Ukrainischen und anderem

Foto: Vaslav Nijinsky (1890–1950) in Le Spectre de la Rose by Michel Fokine (1880-1942). Costume by Leon Bakst (1867-1924). Wikipedia.de

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol

Noch einmal, Sie werden verzeihen, stelle ich Nijinsky in den Prospekt, denn noch eines ist mir aufgefallen: Tschaikowskis 2. Symphonie, die „kleinrussische“, ein Kosename für die Ukraine. Man möge sie doch fürderhin die „Ukrainische“ nennen.

Fabel um Fabel fügt sich darin, man ahnt die Kornähren bis zum Horizont, Volkslied folgt auf Volkslied, dann nach oben, oben – Tschaikowski findet ja, Gott sei Lob und Preis!, nie zum Schluss – aber dies ist doch die Schilderung eines Eindruckes einer Landschaft, unabhängig von jedweder Politik?

Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren, ist doch mein alter Regisseursfreund Gregory zu Gast beim kleinen Barbecue, Sir Sean Grieves, wir waren auf Downing College in Cambridge so rechte Ruderer und folglich Kumpanen, ließ es sich nicht nehmen, mir ein Kilo Angus-Rind von seinen Besitzungen auf der Isle of Skye zu schicken – da lege ich die DVD aus der Pariser Opéra ein, Romeo und Julia, — Sergei Prokofjew in der Inszenierung von Rudolf Nurejew, ja, und jetzt sind wir im Bilde! „Haralds Passionen IV: Von der Ukrainischen und anderem
klassik-begeistert.de 10. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen III: Ya tebya lyublyu!

Foto: Alexander Konstantinowitsch Glasunow (1913), wikipedia.org

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol

Alexander Glasunow komponiert 1902 sein Op. 79, die Suite des Mittelalters, die auf natürlich virtuose Weise alte russische Weisen verarbeitet, mit ungeahnter Tiefe und Dynamik. 

Niemand weiß, woher Sergei Rachmaninow die wunderbare Melodie seines 3. Klavierkonzertes nimmt. Hat er die Melodie erdacht womöglich, die so tief seelisch klingt, wie man sie in dieser Offenheit und Religiosität vielleicht im Requiem von Saint-Säens finden mag, oder im „Death in Venice“ Benjamin Brittens (aber ich wiederhole mich), oder in seiner 2ten, überhaupt im Impressionismus der Französischen Schule, – denken wir doch schon wieder an Prokofjew und seinen dramatisch-programmatischen Peter und der Wolf, den er am Klavier Walt Disney vorspielt, den ein Assistent aus dem Büro dazuholt, „There is this Russian, you have to listen to that!“ Walt hört es, und der Rest ist Musikgeschichte.

Gegen Ende des Poems von Glasunov wird es ganz majestätisch, und es ist auch der ungehemmte Bombast, die Pauken und Trompeten und gelegentlichen Kanonen, und sehr, sehr oft Glockenspiele, wie eben in der 1812, oder in Glinkas „Es lebe der Zar“, Musik die vielleicht wegen des deutlichen Royalismus nicht mehr verstanden wird, oder aus der Zeit gefallen ist. Doch „The Star Spangled Banner“ jenseits des Atlantiks ist ja auch von Fanfarenstößen durchsetzt, die ebenso ungehemmt ins patriotisch-bombastische abgleiten, – was ja fast auch für alle Nationalhymnen gilt, außer eben der unseren, (Haydn war so sehr ergriffen, dass er sein Kaiserquartett-Exzerpt jeden Tag hören und spielen musste) – die Marseillaise kommt in den Sinn, und God Save The Queen, und nun ja auch die zu so trauriger Berühmtheit gelangte, wunderschöne unkrainische Hymne, während die russische ja einen fast gewaltsamen Marsch darstellt, die zaristische gleichfalls – nur hier scheint es, nein, ist es eben erlaubt, ja, ziemlich erlaubt. „Haralds Passionen III: Ya tebya lyublyu!
klassik-begeistert.de, 9. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen II: Der Prozess
klassik-begeistert.de

Foto: Nurejew (c) Allan Warren

„Russen, die ich liebe!“

von Harald Nicolas Stazol 

Wir erinnern uns, dies ist der Versuch eines Plädoyers für eine supranationale Entkoppelung der Musik von Politik und Propaganda, eine Philippica gegen das Absetzen von Eugen Onegin, das Zerreißen von Ballettkompagnien, das sinnlose Kaputtholzen der musikalischen Hochkultur.

Ich vertrete, hohes Gericht, die Angeklagten, meine Komponisten, meine geliebten Russen!

Ich rufe also den ersten Zeugen auf: Dmitri Schostakowitsch, und präsentiere Beweismittel A, sein 2. Klavierkonzert.

Es gehört, Euer Ehren, unzweifelhaft zum Schönsten, das die russische Schule je hervorgebracht hat, ein echtes Traditionswerk, ein tiefrussisches Werk, – wie ja auch die „Leningrader“, die Siebte, wir erinnern uns, unter Beschuss der DEUTSCHEN Wehrmacht entstanden in St. Petersburg.

Während die Deutschen mit Artillerie bombardierten, fuhr Schostakowitsch mit dem Fahrrad zu den Proben. Also erzählen Sie mir nichts von Nationalitäten in der hochheiligen Musik! Ich ziehe die letzte Bemerkung zurück, Euer Ehren.

In fast jeder Biographie von Glinka, über Glasunov, Mussorgsky, bis zu Rimski-Korsakow und Prokofjew, findet sich das Moskauer Konservatorium oder das an der Neva, und alle, wirklich alle, waren Schüler des einen oder des anderen, und dann auch Leiter der Konservatorien. Tschaikowski wird, eigentlich ja Ministerialbeamter, dort geradezu entdeckt! Ein hocheffizientes Bildungssystem, eben zaristisch, – Aber auch das spielt in dieser Betrachtung keine Rolle. „Haralds Passionen II: Der Prozess
klassik-begeistert.de, 8. Juli 2022“
weiterlesen

Haralds Passionen I: “Russen, die ich liebe”!
klassik-begeistert.de

Foto: Pjotr Tschaikowski, Öl auf Leinwand, 1893, Nikolai Kusnezow, Tretjakow-Galerie. (c) wikipedia.de

Statt eines Vorwortes

von Harald Nicolas Stazol

Der Ur-Russe Nurejew tanzt im Theatre des Champs-Élysées „L’Après-midi d’un Faune“ des Franzosen Debussy, in der Inszenierung des Russen Nijinsky, im historischen Kostüm und im Bühnenbild von Léon Bakst, was ich auf einem amerikanischen Bildschirm und mit deutschem Strom gucke, der allerdings aus Russland befeuert wird, während die US-Chips aus China stammen.

Dies sind die Fakten, die ich derzeit vorfinde. Aufgrund derer ich dieses ausführliche Plädoyer führen werde, ungefragt, aber im Äußersten dringlich:

Ich wünsche die Musik, ja, alle Künste, als über Landesgrenzen und Nationen erhoben zu sehen, elysisch über allem stehend, göttlich fast.

Deswegen, und dagegen, verteidige ich die russische Musik.

Ich sehe nicht ein, warum sie ob eines Wahnsinnigen geächtet werden sollte.

Auch der Zwang, russische Musiker zu „Bekenntnissen“ zu drängen ist für mich nicht schlüssig, könnten es doch auch Lippenbekenntnisse sein? Im „Tausendjährigen Reich“ durfte man Mendelssohn nicht spielen, Wagner viel später nicht in Israel. Barenboim erst war der Held, aber man ging und man verließ den Saal. Zum Glück liegt beides in der Vergangenheit. Ich sehe mich in der Pflicht, für „meine Russen“ eine Lanze zu brechen. Man könnte die Serie, zu der ich mich anschicke, überschreiben mit „Versuch eines Plädoyers“. „Haralds Passionen I: “Russen, die ich liebe”!
klassik-begeistert.de, 7. Juli 2022“
weiterlesen