John Neumeier gelingen mit den Uraufführungen von Liliom und Anna Karenina zwei weitere unvergessliche Meisterwerke

Italien-Pas de deux aus Anna Karenina: Anna Laudere und Edvin Revazov (Foto: Kiran West)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI

Schon allein wie Anna Laudere im Italien-Pas de deux in Anna Karenina auf die zarte Be­rührung Revazovs mit geschmeidigen Bewegungen reagiert, so als ob man beim Zusehen spürt, wie sich ihre feinen Härchen auf den Armen emporstellen, ist überaus sehenswert.


von Dr. Ralf Wegner

Die Rolle des Liliom war Carsten Jung auf den muskulösen Leib geschrieben. Bereits alters- und lebens­erfahren, lag ihm die Rolle des etwas proletenhaft auftretenden, aber auch sensibel reagierenden Karussell-Prinzen ganz besonders. Als seine ihn voller Liebe anbetende und die Launen Lilioms klaglos hinnehmende Julie hatte Neumeier die weltweit bewunderte Alina Cojocaru besetzt. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil VI
Staatsoper Hamburg, 9. Januar 2024“
weiterlesen

Die als Küsterin für Evelyn Herlitzius eingesprungene Eliška Weissová machte Leoš Janáčeks Oper Jenůfa zu einem Ereignis

Janina Baechle (Alte Buryja), Clay Hilley (Laca), Laura Wilde (Jenůfa), Tomáš Netopil (musikalische Leitung), Eliška Weissová (Küsterin), Dovlet Nurgeldiyev (Stewa)

Eliška Weissová überzeugte mit ihrem ausgesprochen schallstarken, auch in der Tiefe noch voll klingendem Sopran nicht nur in den dramatischen Szenen, sondern ihr gelangen auch sehr gefühlvolle Töne, etwa bei der Bitte an Stewa, sich seines Sohnes anzunehmen. Der Bayreuth-erfahrene Clay Hilley lag mit seinem hellen, eher weißfarbigem Heldentenor immer satt über dem Orchester und konnte ebenso den Jubel des Publikums (leider nur gut 600 Zuschauerinnen und Zuschauer einfahren.


Leoš Janáček
Jenůfa

INSZENIERUNG: Olivier Tambosi
BÜHNENBILD UND KOSTÜME: Frank Philipp Schlößmann
LICHT: Hans Toelstede

Staatsoper Hamburg, 6. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Janáčeks Oper Jenůfa findet sich eher selten auf dem Spielplan, wird wohl auch wegen des grausigen Inhalts nicht so gern gesehen. Denn das Schicksal einer verlassenen Schwangeren, deren Ziehmutter keine andere Lösung weiß, als das Neugeborene zu töten, ist schon herbe Kost. Karita Mattila war einst eine ganz herausragende Jenůfa und später auch eine völlig überzeugende Küsterin. Als großartige Küsterin blieb auch Éva Marton in Erinnerung. „Leoš Janáček, Jenůfa
Staatsoper Hamburg, 6. Januar 2024“
weiterlesen

Zwei absolute Traumpaare bereichern das Hamburger Ballett: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko sowie Hélène Bouchet und Thiago Bordin

Silvia Azzoni, rechts als kleine Meerjungfrau (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 2006/07, Fotos Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V

Beide Paare, vor allem Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, aber auch Hélène Bouchet und Thiago Bordin waren so aufeinander eingeschworen, das ihre Pas de deux immer zu den Höhepunkten einer Aufführung wurden. Das neue Jahrzehnt begann allerdings mit einem Paukenschlag, und zwar mit Neumeiers ikonischem Ballett Nijinsky.

von Dr. Ralf Wegner

2005 choreographierte John Neumeier für das Kopenhagener Ballett anlässlich des 200. Geburtstags des dänischen Dichters Hans Christian Andersen das Märchenballett Die kleine Meerjungfrau. Eine an das Wasserelement gebundene Nixe rettet einen Schiffsoffizier vor dem Ertrinken und verliebt sich unsterblich in ihn. Sie trennt sich von ihrem Flossenkörper und begibt sich, kaum gehfähig, an Land, um dem Geliebten nahe zu sein. Der hat aber bereits eine andere und die Nixe bleibt allein zurück. Die Geschichte hat natürlich noch mehrere Wen­dun­gen, aber wenn sie am Ende, von dem ebenfalls einsamen Dichter geholt, in den Sternen­himmel hochfährt, bleibt kein Auge im Publikum trocken. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil V
Staatsoper Hamburg, 5. Januar 2024“
weiterlesen

John Neumeiers sehr privates, auf seine Tänzerinnen und Tänzer zugeschnittenes Corona-Ballett Ghost Light nach Klaviermusik von Franz Schubert überwältigt die Seele

Caspar David Friedrich (1774-1840): Der Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 110,0 x 171,5 cm, 1808/10 (Foto: RW)

Das Ballett hinterlässt ein Gefühl von Einsamkeit, von dem Wissen um die Allmacht der Natur, von unserer eigenen Vergänglichkeit. Es ist eine Empfindung, wie sie die Betrachtung der Bilder von Caspar David Friedrich abruft, wie sein Mönch am Meer, der die Unendlichkeit schaut.

Ballett von John Neumeier
Ghost Light

Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024

von Dr. Ralf Wegner

Neumeiers Ballett Ghost Light zeigt eine stete Abfolge von Pas de deux, die, sich mit Soli oder anderen Pas de deux überschneidend, ineinander übergehen. Am Anfang steht allerdings eine Geistererscheinung. Anna Laudere, als Marguerite aus Neumeiers Kameliendame gekleidet, erscheint auf der leeren Bühne, ist sich ihrer selbst nicht bewusst, bemerkt ihre Kostümierung und erinnert sich bestürzt an ihr vergangenes Sein. Sie ist in einer Zwischenwelt gefangen. Die Bühne belebt sich. „Ghost Light, Ballett von John Neumeier
Hamburg Ballett, Staatsoper Hamburg, 4. Januar 2024“
weiterlesen

John Neumeier gewinnt den Ausnahmetänzer Lloyd Riggins für das Hamburger Ballett und engagiert die Zwillinge Jiří und Otto Bubeníček

Lloyd Riggins (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 1998, Foto Holger Badekow)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV

Allein wie Lloyd Riggins es schaffte, mit dem Regenschirm gegen Wind anzukämpfen, war schon eine klassische Meisterleistung. Nicht er zog den Schirm, sondern der nicht vor­han­dene Wind zog ihn über die Bühne. Um es anders auszudrücken, es gelang Riggins mit dar­stellerischen Mitteln Wind im Auge des Betrachters zu erzeugen, ohne dass eine Windmaschine eingesetzt werden musste.


von Dr. Ralf Wegner

1996 wurde Mats Ek beauftragt, in Ergänzung zu Neumeiers klassischem Dornröschen, eine eigene Version des Märchens auf die Hamburger Opernbühne zu bringen. Bettina Beckmann sollte die Hauptrolle tanzen, schied aber, ich meine direkt nach der Premiere, wegen einer Verletzung aus. Die Rolle wurde von der 1993 aus der Ballettschule in das Ensemble gewechselte Silvia Azzoni übernommen.

Lloyd Riggins sowie Jiří und Otto Bubeníček (aus: Jahrbuch Ballett-Tage 2003, Fotos Holger Badekow)

Ihre Leistung als widerspenstiges Mädchen, dass sich ihren Eltern, getanzt von Lloyd Riggins und Joëlle Boulogne, widersetzt, beim Familienausflug das Auto nicht verlässt und sich schließlich von dem Drogendealer Carabosse (Gamal Gouda) den Schuss geben lässt, war tief beeindruckend. Ich erinnere mich noch heute wie gestern, die junge Ensembletänzerin gefühlt minutenlang zitternd wie Espenlaub auf dem Boden liegend gesehen zu haben. Die Eltern verschwanden aus ihrem Leben, Riggins und Boulogne sprangen unvermittelt in den Orchestergraben und tauchten erst beim Schlussvorhang wieder auf. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil IV
Staatsoper Hamburg, 2. Januar 2024“
weiterlesen

Kampnagel oder Operettenhaus? Wohin geht John Neumeier mit seiner Ballett-Truppe? Verlässt er sogar Hamburg?

Orpheus mit den Tieren (1931), Wandbild von Anita Rée im Fokine Studio des Ballettzentrums Hamburg – John Neumeier (Wikipedia, gemeinfreies Foto)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III

Als wichtigstes Ereignis der 1980er-Jahre ist wohl Neumeiers Kampf um eine eigene Ausbil­dungsstätte verbunden mit einem Ballettzentrum für das Ensemble anzusehen. Eine bisher an der Oper nicht vorhandene Ballettschule gründete Neumeier 1978, ein Jahr später be­zog die Schule die oberen Räume eines Wirtschaftsgebäudes am Dammtor. Nach mühsamen Vertragsverhandlungen gelang es Neumeier den Ersten Bürger­meis­ter und die Kultursenatorin von einer großen Lösung im Hamburger Stadtteil Hamm zu über­zeugen.

von Dr. Ralf Wegner

Gigi Hyatt und Gamal Gouda in Othello 1985 (Foto: Holger Badekow)

Im November 1980 gelangten in der Hamburger Michaeliskirche Neumeiers Skizzen zur Mat­thäuspassion nach der Musik von Johann Sebastian Bach erstmals zur Aufführung, im Juni 1981 folgte die Uraufführung des vollständigen Werkes in der Hamburgischen Staatsoper. „Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil III
Staatsoper Hamburg, 22. Dezember 2023“
weiterlesen

Sonya Yoncheva und Riccardo Massi schwelgen in Puccinis Klangwelten

Sonya YONCHEVA und kb- Autor Dr. Holger Voigt 2018 © hvoigt

The Art of Sonya Yoncheva

Staatsoper Hamburg, 21. Dezember 2023

Sonya Yoncheva, Sopran
Riccardo Massi, Tenor

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Leitung: Leonardo Sini

von Dr. Holger Voigt

Lange Zeit war ich mir unschlüssig, ob ich angesichts des tosenden Unwetters tatsächlich das Risiko eingehen sollte, 50 km Anreise und 50 km Rückfahrt auf mich zu nehmen, um dieses Konzert zu besuchen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte bei fast abendlicher Dunkelheit sich im Sturm biegende Bäume und monsunartige Regenkaskaden, die sich fast waagerecht aus den Wolken entleerten. Doch plötzlich tat sich ein Ruhefenster auf, das ich sofort nutzen konnte. Was für ein Glück! „The Art of Sonya Yoncheva
Staatsoper Hamburg, 21. Dezember 2023“
weiterlesen

Sonya Yoncheva und Riccardo Massi singen Puccini – es hat sich schließlich doch noch gelohnt

Sonya Yoncheva und Riccardo Massi, links der Dirigent Leonardo Sini (Foto RW)

Der ganze Abend lief unter dem Label The Art of Sonya Yoncheva. Sofern man ihre beiden Zugaben berücksichtigt, hatte die Sopranistin ihr Abendsoll durchaus erfüllt. Es bleibt aber ein Nachgeschmack.

Arien und Orchesterstücke von Giacomo Puccini
Sonya Yoncheva, Sopran
Riccardo Massi, Tenor
Leonardo Sini, Dirigent
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Konzertabend in der Staatsoper Hamburg, 21. Dezember 2023

von Dr. Ralf Wegner

Es fing etwas zäh mit dem sinfonischen Stück La Tregenda aus Puccinis erster Oper Le Villi an, einer dem Ballett Giselle vergleichbaren Opernhandlung. Sonya Yoncheva tat sich etwas schwer mit der folgenden Szene und Romanze der Anna (Se come voi piccina), auch Riccardo Massi musste sich offenbar erst noch einsingen (Arie des Roberto Torna ai felici dì aus demselben Erstlingswerk). „The Art of Sonya Yoncheva
Konzertabend in der Staatsoper Hamburg, 21. Dezember 2023“
weiterlesen

Klein beleuchtet kurz 10: Sonya Yoncheva und Riccardo Massi

Riccardo Massi, Sonya Yoncheva, Leonardo Sini; Foto Patrik Klein

Donnerstag Abend in der Staatsoper Hamburg:

THE ART OF Sonya Yoncheva und Riccardo Massi (21. Dezember 2023)

Mit der Reihe THE ART OF knüpft die Staatsoper Hamburg an eine lange Tradition an: Luciano Pavarotti, José Carreras, Grace Bumbry, Montserrat Caballé und viele andere eroberten so schon bei Lieder- oder Arienabenden das hanseatische Publikum.

Die bulgarische Sopranistin Sonya Yoncheva und der italienische Tenor Riccardo Massi standen nun gestern Abend zusammen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Leonardo Sini auf der Bühne der Staatsoper. „Klein beleuchtet kurz 10: THE ART OF Sonya Yoncheva und Riccardo Massi
Staatsoper Hamburg, 21. Dezember 2023“
weiterlesen

Das Hamburger Publikum kniet vor Ballett-Stars wie dem 1976 engagierten Kevin Haigen

Kevin Haigen in Josephslegende (YouTube, Videostill)

5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II

Tanz war bei Neumeier Ausdruck der seelisch-emotionalen Befindlichkeit. Mit einem Mal öffneten sich auf der Ballettbühne psychologisch nachvollziehbare Welten und man ging nach der Aufführung nicht nach Hause wie nach einer Holiday on Ice-Vorstellung. Julia, Marie, Natalia oder König Ludwig stülpten ihr Inneres nach außen, nicht durch Prosa oder Gesang, sondern allein durch Tanz und darstellerische Kraft.


von Dr. Ralf Wegner

In rascher Folge nahm sich Neumeier weiterer Klassiker an. So 1974 seine Version von Tschaikowskys Nussknacker, in dem ein junges Mädchen namens Marie von dem Tanzlehrer Drosselmeier in die Ballettwelt eingeführt wird und zwei Jahre später Schwanensee, von Neumeier Illusionen wie Schwanensee genannt. Denn das Stück handelt nicht von einem Prinzen Siegfried, der sich in eine weiße Schwanenprinzessin verliebt und an ihrem schwarzen Ebenbild scheitert, sondern von den letzten Tagen König Ludwigs II. mit Erinnerungen an das Richtfest von Schloss Neuschwanstein, an den weißen Schwanenakt, dem er im Münchner Hoftheater beiwohnte und von einem Festakt mit großem Auftritt der Prinzessin Natalia, umrahmt von Szenen aus der Kerkerhaft und dem Tod im Starnberger See.

Magali Messac, Persephone Samaropoulo und Lynn Charles (aus: Jahrbücher Ballett-Tage 1976/78, Fotos Holger Badekow)

„Serie: 5 Jahrzehnte Hamburg Ballett John Neumeier, Teil II
Staatsoper Hamburg, 19. Dezember 2023“
weiterlesen