„María de Buenos Aires“, diese Opern-Rarität von Astor Piazzolla in 16 Bildern mit dem Libretto des uruguayischen Lyrikers Horacio Ferrer (1933 – 2014), erlebte ihre konzertante Uraufführung am 8. Mai 1968 in Buenos Aires. Es war die einzige Oper, die Piazzolla komponierte – keine eigentliche Oper im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Liederzyklus mit lose aufeinander folgenden Szenen.
Hotel Waldhaus Sils Maria, 20. September 2021
Resonanzen Eröffnung
von Dr. Charles E. Ritterband (Text)
Von einer Oper zu sprechen angesichts dieses Kleinods hieße, diesem musikalischen Juwel Unrecht tun – also sprechen wir, den spanischen Diminutiv verwendend, von einer „Operita“: Zum 100. Geburtstag des großen, 1921 im argentinischen Mar de Plata geborenen Komponisten und Bandoneón-Spielers Astor Pantaleón Piazzolla eröffnete das „Waldhaus“ in Sils Maria sein herbstliches Kulturfest „Resonanzen“ gleich mit einem Höhepunkt – „María de Buenos Aires“. In der Halle des kulturbeflissenen Grand Hotels, das seit mehr als einem Jahrhundert auf einem Felshügel über der Hochebene des Oberengadin thront und dessen Gästeliste sich liest wie das „Who is Who“ der europäischen Kultur, haben sich die Hotelgäste versammelt und lauschen einer Rarität aus dem fernen Buenos Aires.
Foto: Die Sopranistin Christiane Boesiger, copyright: Axel Brog (axelbrog photographie)
Ich selbst, der dort einige Jahre als Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ verbracht hat, wurde wehmütig und nostalgisch – nicht nur beim Ertönen der unvergleichlichen Klänge aus der Feder von Astor Piazzolla, sondern auch angesichts des perfekten „Porteno“-Akzents, in dem die Sopranistin Christiane Boesiger, begleitet vom exzellenten Ensemble namens „Folksmilch“ diese surreal-poetischen Texte sang und sprach. Nur zwei Monate hatte sie, wie sie mir anschließend erzählte, mit einschlägigem Coaching benötigt, um diese einzigartige Spielart des Spanischen zu erlernen, in der die „Portenos“ („die vom Hafen“, in dem sie einst in Buenos Aires als Emigranten aus Europa angekommen waren) Konsonanten und Vokale zu einer weichen, poetischen Einheit verschleifen…
„María de Buenos Aires“, diese Opern-Rarität von Astor Piazzolla in 16 Bildern mit dem Libretto des uruguayischen Lyrikers Horacio Ferrer (1933 – 2014), erlebte ihre konzertante Uraufführung am 8. Mai 1968 in Buenos Aires. Es war die einzige Oper, die Piazzolla komponierte – keine eigentliche Oper im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Liederzyklus mit lose aufeinander folgenden Szenen. Die Handlung ist surreal, aber atmosphärisch stark, düster und suggestiv. Im poetischen Text schwingt viel von der unvergleichlichen, schaurig-schönen Atmosphäre der argentinischen Hauptstadt mit, die ja immer schon Schauplatz dramatischer Ereignisse war: Blutige Diktaturen, Korruption und Herzlichkeit, unermesslicher Reichtum und unerbittliche Armut, grassierende Kriminalität und glitzerndes High Life der Oberschicht, Sehnsuchtsort der Tango-Romantiker und Zufluchtsort gleichermaßen von Opfern und Tätern, von Verfolgten und Mördern der NS-Herrschaft in Europa.
Vor diesem Hintergrund spielt sich das eigenwillige Werk Piazzollas ab: Es handelt von der brutalen Seite dieser fantastischen Stadt – dem Milieu der Diebe, der Zuhälter und Mörder, welche María im Verlauf der Handlung umbringen. In der zweiten Hälfte dieses mit Logik nur schwer fassbaren aber dem poetischen Geist sich eröffnenden Werks schwebt María als Geist durch Buenos Aires, das zum Inbegriff der Hölle auf Erden stilisiert wird. Sie verfasst Briefe an die Bäume und Kamine der Stadt, die ja bekanntlich nach Wien zum Mekka der Psychoanalyse wurde – und María gerät denn auch in einen grotesk-absurden „Zirkus der Psychoanalytiker“. In all den Dramen, die sie durchläuft, wird María gleichsam zur Verkörperung des Tangos. Raffiniert verschmilzt Piazzolla hier die verschiedenen Stile des Tangos – er selbst hegte allerdings offenbar erhebliche Vorbehalte gegenüber diesem der Halbwelt von Buenos Aires entstandenen Genre. Die Botschaft dieses Werkes könnte sein: María wird ermordet, doch der Tango selbst stirbt nie. Sie durchläuft die musikalischen Metamorphosen dieses Werks in der ganzen Bandbreite von klassischer Musik bis zum Jazz und am Ende kommt es, symbolhaft, zur spektakulären Wiedergeburt der Ermordeten: Damit verkörpert sie die Auferstehung und das ewige Weiterleben des Tangos selbst, für dessen aktuelle Existenz Piazzolla die wichtigsten Beiträge geleistete hat. „Tango-Operita „María de Buenos Aires” im Hotel Waldhaus Sils Maria“ weiterlesen