Ein tiefer Griff in die Archive bringt Schätze der Ära Karajan zutage

CD-Besprechung: BP und Herbert von Karajan 1953–1969 live in Berlin  klassik-begeistert.de, 24. März 2025

Die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan: 1953–1969 live in Berlin

24 Hybrid SACD/CD

Begleitbuch
Hardcover, 128 Seiten

von Peter Sommeregger

Mit der neuesten Veröffentlichung aus den Archiven der Berliner Philharmoniker wird die bedeutende Ära Herbert von Karajans, die von 1956 bis 1989 dauerte, in Live-Mitschnitten dokumentiert. Die frühesten stammen sogar noch aus den Jahren 1953 und 1954, also noch vor der Übernahme des Orchesters durch Karajan.

In den Jahren vor dem Bau der heutigen Philharmonie mussten die Konzerte der Philharmoniker, die ihre Heimstatt an der Bernburger Straße im Bombenkrieg verloren hatten, noch im Titania-Palast in Steglitz, ab 1955 im neuen Konzertsaal der Hochschule für Musik stattfinden. Als schließlich 1963 die neue Philharmonie am Tiergarten eröffnet wurde, hatte das Orchester endlich wieder einen repräsentativen Konzertsaal zur Verfügung. Karajan hatte an der Planung des kühnen Gebäudes von Hans Scharoun aktiv mitgewirkt und setzte die 9. Symphonie Beethovens auf das Programm des Eröffnungskonzertes. Der Mitschnitt dieses Konzertes vom 15. Oktober 1963 ist auch ein bedeutendes Zeitdokument. Das Sopransolo sang Gundula Janowitz, deren „sanfter Flügel“ den Beginn ihrer späteren Weltkarriere einleitete.

Die teils über 70 Jahre alten Bänder wurden akribisch restauriert, das Klangbild ist trotz der damaligen Mono-Aufnahmetechnik erstaunlich gut. Die ersten 15 der 24 CDs sind noch in der alten Technik, die späteren ab 1967 in brillantem Stereo aufgenommen.

Programmatisch ist sich Herbert von Karajan über die Jahrzehnte treu geblieben. Das Spektrum der von ihm aufgeführten Komponisten setzte sich auch in seinen späteren Schallplattenaufnahmen für die Deutsche Grammophon-Gesellschaft fort.

Nicht weniger als drei Aufführungen der 9. Symphonie Beethovens finden sich in der Edition, ebenso eine der 3., der „Eroica“. Das dritte Klavierkonzert ist in einer Aufnahme mit dem exzentrischen Pianisten Glenn Gould enthalten.

Johannes Brahms ist umfangreich vertreten: seine Symphonien mit Ausnahme der ersten, und sein 2. Klavierkonzert mit dem ungarischen Pianisten Géza Anda. Dieses Konzert fand schon einmal den Weg auf die Schallplatte.

Auch Mozart gehörte zu den bevorzugten Komponisten Karajans. Neben seinen von ihm mehrfach aufgeführten Opern tauchte er auch in den Konzertprogrammen regelmäßig auf. Die „Jupiter-Symphonie“, die zweite Lodronische Nachtmusik, das d-Moll-Konzert mit dem Pianisten Wilhelm Kempff, und als besondere Rarität das Konzert für drei Klaviere, bei dem Karajan neben Jörg Demus und Christoph Eschenbach den dritten Klavierpart übernahm, sind hervorragende Beispiele für seine Mozart-Pflege.

Anton Bruckner, dem Karajan in späteren Jahren einen kompletten Zyklus seiner Symphonien widmete, ist in der Edition mit der 4. und der monumentalen 8. Symphonie enthalten.

Richard Strauss kommt in größerem Umfang zu Gehör, neben den symphonischen Dichtungen „Also sprach Zarathustra“ und „Don Quichotte“, bei dem der große Cellist Pierre Fournier als Solist hervortritt, sind es die so genannten „Vier letzten Lieder“ und die Monologe der Ariadne, die beide von Elisabeth Schwarzkopf  mit wunderbaren, weitgespannten Bögen gesungen werden. Die Sopranistin war eine der von Karajan bevorzugten Sängerinnen , man kann durchaus hören, warum das so war.

Die Barock-Komponisten Bach und Händel sind eher sparsam, nur mit dem Magnificat D-Dur (Bach) und zwei Concerti grossi (Händel) vertreten.

Eher stiefmütterlich ist auch Franz Schubert behandelt, von dem lediglich die große C-Dur-Symphonie zu hören ist, wie auch Robert Schumann mit seiner 4. Symphonie. Auch von Antonín Dvořák ist nur die populäre Symphonie „Aus der neuen Welt“ enthalten, von Tschaikowsky die 5. Symphonie.

An französischen Komponisten finden sich lediglich Debussy und Ravel mit „Nachmittag eines Fauns“ bzw. die Orchestersuite „Daphnis et Chloé“.

Richard Wagner ist mit Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“ vertreten, Karajans spätere intensive Beschäftigung mit seinen Opern findet hier noch keinen Niederschlag.

Den Komponisten des 20. Jahrhunderts, also seinen Zeitgenossen, brachte Karajan durchaus Interesse entgegen. Von Jean Sibelius führte er dessen 5. Symphonie auf, ebenso die 5. von Sergej Prokofjew. Von Béla Bartók ist die Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta enthalten. Arnold Schönbergs Variationen für Orchester, ein Werk in der Zwölftontechnik, 1928 von Wilhelm Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern  uraufgeführt, stellen eine interessante historische Reminiszenz dar.

György Ligeti ist mit seinen erfolgreichen „Atmosphères“ vertreten, von Ralph Vaughan Williams erklingt die Fantasia on a Theme by Thomas Tallis, von Richard Rodney Bennett seine Aubade für Orchester. Besonderen Reiz hat Rolf Liebermanns Capriccio für Sopran und Violine, hier sind die Sopranistin Irmgard Seefried und ihr Ehemann, der Geiger Wofgang Schneiderhan die Solisten des virtuosen Stückes, beide von Karajan  hoch geschätzte Künstler.

Der künstlerische Wert der opulent ausgestatteten Edition liegt nicht nur in der darin ablesbaren Entwicklung Karajans in den 1950er und 60er Jahren, ehe er begann, sein gesamtes Repertoire stereophon für die Schallplatte einzuspielen. Sie stellt gleichzeitig auch ein Dokument für die Entwicklung des Orchesters in der Ära Herbert von Karajans dar. Die Begegnung mit bedeutenden Solisten jener Zeit ist ebenfalls ein Wert für sich, und nicht zuletzt wecken die Konzerte bei langjährigen Abonnenten nostalgische Erinnerungen an verklungene Konzerte aus.

Ein umfangreiches Begleitbuch und die gediegene optische Aufmachung der umfangreichen Edition entsprechen dem hohen Standard, den die Veröffentlichungen des hauseigenen Labels sich selbst gesetzt haben.

Eine Veröffentlichung, die einen bedeutenden Beitrag zur Dokumentation und Bewahrung des akustischen Erbes Herbert von Karajans und der Berliner Philharmoniker leistet.

Peter Sommeregger, 24. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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