CD-Besprechung:
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg veröffentlicht ein durchdachtes Album mit Musik von Schubert und Webern.
Franz Schubert: Streichquartett in d-Moll, D 810, Der Tod und das Mädchen. Bearbeitung für Streichorchester von Gustav Mahler (Elbphilharmonie, September 2021)
Anton Webern: Langsamer Satz für Streichquartett (1905; Laeiszhalle, Kleiner Saal, Dezember 2021)
Franz Schubert: Deutsche Tänze, D 820, für Orchester gesetzt von Anton Webern (Elbphilharmonie, Mai 2021)
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano, Dirigent
Farao Classics, B 108116
von Brian Cooper, Bonn
Die vorliegende CD rennt bei mir gleich in dreifacher Hinsicht offene Türen ein, denn das Repertoire koinzidiert mit allerersten Hörerfahrungen.
Zum einen fing ich mit der „kleinen“ Form Streichquartett an und entwickelte mich erst später – auch – zum Liebhaber groß besetzter sinfonischer Musik (Mahler etc.).
Zum anderen wurde der Grundstein für eine lebenslange Schubertliebe dadurch gelegt, dass in unserer Straße ein Professor für Liedbegleitung lebte, der ein enger Freund meiner Familie war und mir früh Winterreise und Erlkönig nahebrachte. Wilhelm Hecker war eine prägende Figur in meinem musikalischen Leben. Sein Klaviertrio, mit dem er etliche Rundfunkaufnahmen für den WDR machte, hieß Schubert-Trio. (Die anderen Mitglieder waren der Geiger Franzjosef Maier und der Cellist Kurt Herzbruch.)
Und zum dritten spielt meine erste Geigenlehrerin Maria Manemann in der Sinfonietta Köln, einem Streichorchester, was zur Folge hatte, dass ich viel Musik für diese Besetzung in Konzerten und auf CD gehört habe. Bis heute mag ich den Sound des „verstärkten Streichquartetts“. Sogar eine CD-Aufnahme durfte ich begleiten, und Marias Ehemann, der Dirigent Cornelius Frowein, vertraute schon dem Zwölfjährigen die Noten an, die eingerichtet werden wollten: Auf- und Abstrich, piano und forte und so fort.
Da kommt also die CD, die dieser Tage ins Haus flattert, gerade recht, denn das längste Werk ist Gustav Mahlers Arrangement von Franz Schuberts Der Tod und das Mädchen, das mich, als ich es zum ersten Mal in der Quartettfassung hörte (ich glaube, es war mit dem Auryn-Quartett in der Aula der Kölner Musikhochschule, in Begleitung von Wilhelm und meinem Vater), völlig umgehauen hat.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg legt nun unter der Leitung von Kent Nagano eine Aufnahme dieses Werks vor, nebst Anton Weberns 1905 geschriebenem Langsamen Satz für Streichquartett und Schuberts Deutschen Tänzen D 820. Es ist ein Album, bei dem die Zahnräder der Musikgeschichte ineinandergreifen.
Eher introvertiert wirkt der Beginn des D 810, das auf einem Gedicht von Matthias Claudius basiert (bzw., geht man noch weiter zurück, auf ein erotisches Motiv, das ab dem 16. Jahrhundert verschiedene Künstler inspirierte), doch bei der zweiten Vorstellung des Themas überzeugt eine schöne Bassgrundierung.
Im zweiten Satz hört man schönen Swing und strahlende Soli des Konzertmeisters; bei der Intonation in den höchsten Lagen ist im Orchester nicht alles astrein. Warum verlangsamt Nagano gegen Ende das Tempo? Fahl verklingt der Satz, ersterbend. Es ist ungewohnt, aber nicht unpassend.
Auch im dritten Satz gibt es schöne Soli, das Orchester klingt homogen, Nagano kostet die Schubert’schen Harmonien köstlich aus. Insgesamt fehlt mir jedoch das Angerissene, Unbedingte, das Wilde. Es wirkt zu zahm. Im letzten Satz überrascht mich das Motiv aus Schuberts Erlkönig: „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?“
Überraschend ist für mich der spätromantische Wohlklang des langsamen Satzes von Anton Webern. Clara Grünwald, Hibiki Oshima, Naomi Seiler und Konzertmeister Konradin Seitzer, allesamt Mitglieder des Staatsorchesters, deren Namen übrigens allesamt löblicherweise im Booklet abgedruckt sind, spielen mit einer Intensität, die so sehr auf der Stuhlkante glüht, dass man gar nicht so weit vom größer besetzten Streichorchester entfernt scheint. Insofern fügt sich dieses Werk hervorragend in ein Album ein, das programmatisch kaum besser durchdacht sein könnte.
Denn Webern ist es, der Schuberts Deutsche Tänze D 820 raffiniert für Streichorchester setzte. Und so schließen sich gleich mehrere Kreise. Diesen Tänzen kann ich mehr abgewinnen als den völlig abgenudelten Ungarischen Tänzen eines anderen (Hamburger) Lieblingskomponisten, Johannes Brahms. Gleich die ersten drei Tänze sind so voll zögerlichen Charmes wie ein „Willst Du mit mir tanzen?“ des Jünglings, der sich traut, die Dorfschönheit anzusprechen. Die lehnt ihn hier gottlob nicht ab, und so dreht man sich auch in den weiteren Tänzen quer durch die Dorfschänke.
„Sollst sanft in meinen Armen schlafen“, denkt er sich vielleicht – eine Zeile aus dem erwähnten Gedicht von Matthias Claudius. Dabei hat der Jüngling hoffentlich noch das Leben vor sich und ist keineswegs der personifizierte Tod… Nagano trifft hier vollends den Charakter der kurzen Stücke: Was in Der Tod und das Mädchen fehlte, kommt hier – auch dank der brillant aufspielenden Holzbläser – absolut zur Geltung.
Ein Wort zur Aufmachung. Die CD liegt in einem ansprechenden und zeitgemäßen Digipak. Im interessanten Interview mit Kent Nagano spricht dieser vom „sehr faszinierenden Zwischenreich von Kammermusik und Symphonik, das heute – leider – nicht mehr so häufig bespielt wird“. Nagano betrachtet Schubert als das romantische, futuristische Fundament, das das Tor zur Moderne weit aufgestoßen habe. Das Orchester blicke mit diesen Werken sowohl zurück als auch nach vorn.
Das Booklet ist gut übersetzt und schön aufgemacht; das Coverbild ist ein Kunstwerk eines ehemaligen Geigers im Bayerischen Staatsorchester, Erich Gargerle, der 2021 verstarb.
Mein lieber Konzertfreund Heinz schenkte mir vor einigen Jahren die Aufnahme des D 810 mit dem English Chamber Orchestra – was ist eigentlich aus denen geworden? – unter Jeffrey Tate. Sollte man mich zwingen, nur eine Aufnahme in der Version für Streichorchester zu wählen, griffe ich zu Jeffrey Tate. Aber das vorliegende Album ist so raffiniert programmiert, dass allein die beiden anderen Werke ein Kaufgrund sind.
Dr. Brian Cooper, 23. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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