Jan Lisiecki wagt mit Beethoven den Sprung ins kalte Wasser

CD-Rezension: Jan Lisiecki Complete Piano Concertos  klassik-begeistert.de, 3. März 2024

CD-Rezension:

Eine beeindruckende, bemerkenswert abgeklärte Einspielung der fünf Klavierkonzerte mit der Academy of St. Martin in the Fields.

Jan Lisiecki
Complete Piano Concertos

Deutsche Grammophon, DG 483 7637 (3 CD) und 00440 073 5742 (2 DVD)

von Brian Cooper, Bonn

Jan Lisiecki durfte ich in jüngerer Zeit gleich dreimal erleben. Zum einen mit einem Chopin-Rezital letzten Sommer, und zweimal mit dem Klavierkonzert von Edvard Grieg (Royal Philharmonic und Gürzenich). Alle drei Darbietungen zeugten von einer Reife, die erstaunlich ist.

Anlässlich seines bevorstehenden Geburtstags am 23. März dieses Jahres – immer noch kein runder, der Mann wird 29 – höre ich nochmal in seine Aufnahme der fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven rein, die der kanadische Pianist mit polnischen Wurzeln im Dezember 2018 mit der Academy of St. Martin in the Fields in Berlin aufführte.

Kurzfristig war er damals für den erkrankten Murray Perahia eingesprungen, und die Aufnahme aus dem Berliner Konzerthaus erweist sich als Glücksfall. Denn statt akribischer Vorbereitung mit viel Zeit, gegen die nichts einzuwenden wäre, entstand aus der Spontaneität heraus eine neue Kraft, eine neue Energie, wie Lisiecki im Dezember 2019 der Zeitschrift Crescendo erzählte. Die Konzerte waren eine Momentaufnahme, und die Aufnahme so stark, dass der Zyklus bei der Deutschen Grammophon erscheinen konnte, bei dem Lisiecki schon seit seinem 15. Lebensjahr unter Vertrag steht.

Orchester wie Solist spielen die Kopfsätze mit aller gebotenen Seriosität (mit jugendlichem Ungestüm im ersten Konzert), die langsamen Sätze mit schier beeindruckendem Tiefgang und die Final-Rondos mit Witz und einer Leichtigkeit, die Laune macht. Das Rondo des ersten Klavierkonzerts etwa beglückt vor allem im tänzerisch-federnden a-Moll-Mittelteil.

Laut Booklet leitet der Pianist den Beethoven-Marathon vom Instrument aus („musical direction“). Das kennen wir von zahlreichen Pianisten wie András Schiff, der sich schon länger auch als Dirigent betätigt und dabei vom Flügel aus leitet. Der Blick in die DVD zeigt: Lisiecki kommuniziert stark mit dem Orchester; dirigieren ist das nicht unbedingt. Doch egal: Dieses Orchester kommt auch ohne Dirigent aus, Tomo Keller ist ein souveräner Konzertmeister.

Mich beeindrucken vor allem die Konzerte 3 bis 5, die in den langsamen Sätzen von einer Tiefe zeugen, die in Staunen versetzt – ich darf daran erinnern, dass der Künstler knapp 30 Lenze zählt.

Im dritten Klavierkonzert gerät die lange Orchestereinleitung des ersten Satzes besonders schön. Die Harmonie zwischen Orchester und Solist ist prächtig. Bewundernswerte Einzelleistungen findet man in den fünf Konzerten allenthalben, etwa im langsamen Satz des dritten in Fagott und Flöte. (Kurz denke ich, an den Pauken sitzt Michel Plasson, Arvo Pärt am Cello, an der Flöte Horst Lichter…)

Das vierte Klavierkonzert liegt Lisiecki besonders am Herzen. Das mag auch daran liegen, dass es in seiner Karriere eine besondere Rolle spielt, denn auch 2013 sprang er ein – bereits 2013, und zwar in Bologna für Martha Argerich; es dirigierte der große Claudio Abbado. Ein wichtiger Karriere-Meilenstein. Vielleicht liegt die Affinität des jungen Pianisten zum vierten Konzert aber auch an der Kadenz des ersten Satzes, die regelrecht modern daherkommt und auch komponiert ist.

Das „Kaiserkonzert“ gerät beeindruckend und perlend. Im Orchester herrscht ein fein austarierter Klang vor: nie zu viel, nie zu wenig. Glockenspielartige Klänge im Seitenthema des ersten Satzes beglücken. Auch die enervierendste Stelle des gesamten Werks, dieser langweilige Übergang zur Reprise im ersten Satz – Sie wissen schon, diese zigfache Wiederholung des Motivs, beginnend in den Bratschen – gerät so spannend, dass man aufhorcht. Der zweite Satz ist meisterlich musiziert, das Finale strotzt vor übermütiger Lebensfreude.

Nur manchmal stören minimale agogische Manierismen des Solisten ein wenig den Fluss – also das Zielführende auf einen Punkt hin. Das schmälert jedoch nicht den Gesamteindruck: nämlich, dass es sich hier um eine sehr, sehr bemerkenswerte Einspielung handelt, die in meiner persönlichen CD-Sammlung übrigens gleich neben jener von Murray Perahia Platz gefunden hat, der die Werke zwischen 1983 und 1986 mit dem Concertgebouworkest unter Bernard Haitink für CBS aufnahm.

Beethoven wird in dieser Gesamteinspielung vom Sockel geholt, und das Konzerthaus-Publikum ist von den Socken: Der begeisterte Applaus nach dem 5. Klavierkonzert wurde nicht aus CD 3 herausgeschnitten. Falls Sie Jan Lisiecki und die Academy in diesem Repertoire live erleben und selbst Beifall spenden möchten: Bald wird es Gelegenheit dazu geben.

Und Jan Lisiecki hat eine der coolsten Unterschriften, die man sich auf oder in einem Booklet wünschen kann.

Dr. Brian Cooper, 3. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Royal Philharmonic Orchestra, Jan Lisiecki, Klavier, Vasily Petrenko, Dirigent Kölner Philharmonie, 31. Januar 2023

Jan Lisiecki, Edward Gardner, London Philharmonic Orchestra, Elbphilharmonie, 20. November 2021

Jan Lisiecki CAMERATA Salzburg, Schleswig Holstein Musik Festival

Robin Ticciati, Jan Lisiecki, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Kölner Philharmonie, 12. Februar 2020

 

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