Die genialen Werke des Lüttichers sollten eigentlich zum Standardrepertoire gehören, werden aber leider längst nicht oft genug aufgeführt
Hilary Hahn
Eugène Ysaÿe
Six Sonatas for Violin Solo op. 27
Deutsche Grammophon, DG 486 4176
von Brian Cooper, Bonn
Die sechs Solosonaten op. 27 von Eugène Ysaÿe gehören zum Standardrepertoire aller guten Geigerinnen und Geiger, die etwas auf sich halten. Leider hört man sie aber im Konzertsaal allzu selten. Natürlich gibt es hin und wieder mal einen Satz als Zugabe, auch wenn Bach in solchen Situationen noch immer der weitaus häufiger gespielte Komponist ist. Dennoch: Ebenso wie Bachs sechs Sonaten und Partiten sollten im Repertoire eines jeden geigenden Menschen, ob Profi oder Laie, die Ysaÿe-Sonaten eine ebenso fest in der DNA verankerte Konstante bilden – eine Lebensaufgabe.
Nun hat die amerikanische Geigerin Hilary Hahn endlich ein neues Solo-Album mit eben diesen Ysaÿe-Sonaten vorgelegt, nachdem sie ihrem überwältigenden Bach-Debüt bei Sony aus dem Jahre 1997 – ihrem Lehrer Jascha Brodsky „with gratitude and love“ gewidmet, auf den wir noch zu sprechen kommen werden – 2018 das späte zweite Bach-Album (Decca) folgen ließ.
Eugène Ysaÿe (1858-1931) ist neben César Franck (1822-1890) einer der ganz bedeutenden belgischen Komponisten. Beide stammen gebürtig aus Lüttich.
Natürlich sind Ysaÿes Sonaten technisch anspruchsvoll, zugleich aber auch so effektvoll komponiert, dass sie mitunter schwerer klingen, als sie tatsächlich sind. Auch halbwegs passable Laien, wie ich es einmal war, dürfen sich durchaus daran versuchen. Es war für mich ein großer Tag, als mein Geigenlehrer in Irland, Gregory Ellis, Primarius des Vanbrugh Quartet, vorschlug, ich könne mich mal an einige diese Werke wagen. In meinem Fall waren es die zweite und dritte Sonate. Und ich wurde förmlich besessen von dieser Musik.
„Obsession“ lautet denn auch der Beiname der zweiten Sonate. Jede der Sonaten ist einem anderen Geiger gewidmet. Hier chronologisch: Szigeti, Thibaud, Enescu, Kreisler, Crickboom und Quiroga. Greg erzählte mir eine Anekdote zur zweiten Sonate: Jacques Thibaud sei Ysaÿe derart auf die Nerven gegangen, indem er sich immer wieder, geradezu obsessiv, mit dem Beginn von Bachs E-Dur-Partita eingespielt haben soll, dass der Belgier den Franzosen prompt zum Widmungsträger dieser Sonate machte und Elemente der Bach’schen Partita humorvoll-schelmisch mit dem mittelalterlichen Dies irae-Motiv kombinierte.
Hilary Hahn ist, wie übrigens auch Leila Josefowicz, über ihren oben erwähnten Lehrer Jascha Brodsky „Enkelschülerin“ von Ysaÿe, wie sie in ihrem klugen und sehr persönlichen Booklet-Text schreibt. Zudem weist sie darauf hin, dass eine Aufnahme der Sonaten immer in ihrem Hinterkopf war und sie förmlich erstarrt sei, als sie feststellte, dass die Sonaten im Juli 1923 geschrieben wurden und sich daher eine Einspielung zum 100jährigen Bestehen förmlich aufgedrängt habe. Nach etwa zehn Jahren begann sie also wieder, sich mit den Werken zu beschäftigen.
Hilary Hahn spielt vom ersten Ton an zupackend und mit glühender Intensität. Die erste Sonate steht eindeutig in der Tradition von Bach, so etwa im zweiten Satz, der eine Fuge ist. Es ist halt ein moderner Bach, der absolut alle Möglichkeiten der Geige ausschöpft. Ganz herrlich gerät die pizzicato-Stelle zu Beginn des dritten Satzes der zweiten Sonate.
In der „Ballade“, der einsätzigen Sonate op. 27,3, klingt Hahns Violine fast wie ein Orchester. Es ist ein geniales Werk, und diese Musik des Lütticher Komponisten gibt mir musikalisch doch so viel mehr als die 24 Capricen von Paganini, zu denen ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit böse „viel Aufwand, wenig Ertrag“ sage. Ysaÿe hingegen ist nicht auf Show aus, sondern schlichtweg auf eine Virtuosität der raffinierteren Art. Musikalischer, einfach witziger! Und das kommt in der Aufnahme Hilary Hahns grandios rüber.
Das Finale der vierten Sonate beispielsweise gerät zu einem Parforceritt – freilich ohne jegliche Anstrengung und mit größter Musikalität und stupender Technik absolviert. Traumwandlerisch sicher und mit unglaublich spannenden Klängen versieht Hahn die letzte Sonate, die sechste, die, Manuel Quiroga gewidmet, mit spanischen Elementen aufwartet.
Was also ist der Erkenntnisgewinn, wenn man bereits im CD-Regal die Gesamtaufnahmen des op. 27 von Ilya Kaler (Naxos), Laurent Korcia (Lyrinx – Harmonia Mundi), Tai Murray (Harmonia Mundi), Ingolf Turban (Telos), Tianwa Yang (Naxos), Thomas Zehetmair (ECM) und Frank Peter Zimmermann (EMI) hat, sowie die nicht kompletten Einspielungen von Carolin Widmann (Telos, Sonaten 2 und 4) und Maxim Vengerov (EMI, Sonaten 2-4 und 6)?
Ganz einfach: Es ist ein Glück, dass wir eine weitere Aufnahme dieses so wichtigen geigerischen Repertoires haben. Das Jubiläumsprojekt ist gelungen, möge Ysaÿe mehr gespielt werden!
Übrigens fällt in Hilary Hahns Booklet-Text auch das Wort DNA. Das hatte ich bereits geschrieben, bevor ich es las.
Dr. Brian Cooper, 8. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Houston Symphony Orchestra, Hilary Hahn, Andrés Orozco-Estrada, Wiener Konzerthaus
Philharmonia Orchestra, Hilary Hahn, Paavo Järvi, Elbphilharmonie Hamburg, 30. Januar 2019