Braucht es eine weitere neue Gesamteinspielung der Sinfonien von Johannes Brahms?

CD-Rezension: Johannes Brahms, The Symphonies, COE, Yannick Nézet-Séguin klassik-begeistert.de, 26. August 2024

Yannick Nézet-Séguin, Brahms the symphonies © Deutsche Grammophon

CD-Rezension:

Viele Aufnahmen haben ihre Berechtigung. So auch jene mit dem Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin.

Johannes Brahms
The Symphonies

Chamber Orchestra of Europe
Yannick Nézet-Séguin

Deutsche Grammophon, DG 486 6000

von Brian Cooper, Bonn

Ein Blick ins CD-Regal offenbart eine Fülle zufriedenstellender bis richtig superber Gesamtaufnahmen. Bernstein (Wiener Philharmoniker und New York Philharmonic), Jansons (BRSO), Karajan (Berliner Philharmoniker), Wand (NDRSO)… Ganz zu schweigen von den vielen Einzelaufnahmen, darunter die Vierte schlechthin mit den Wienern unter Carlos Kleiber: Diese Aufnahme ist eine für die einsame Insel. Obwohl sie mit nur knapp 40 Minuten nicht gerade üppig bestückt ist, werde ich nicht müde, sie immer wieder zu hören.

Braucht es da noch eine weitere Gesamtaufnahme? Nun, die Symbiose zwischen Yannick Nézet-Séguin und dem Chamber Orchestra of Europe ist äußerst reizvoll, was all jene bezeugen können, die in den vergangenen Sommern nach Baden-Baden gepilgert sind (Juli 2022: Sinfonien 1 & 2; Juli 2023: Sinfonien 3 & 4). Das hat Kraft und Spannung und vor allem… Spielfreude!

Viele Gesamteinspielungen haben ihre Berechtigung und dürfen in trauter Eintracht nebeneinanderstehen. Und warum sollte ein noch recht junger Dirigent nicht auch das Kernrepertoire einspielen dürfen? Zumal, wenn es Liveaufnahmen aus mitunter beglückenden Konzerten sind. Schon die Einspielungen der Sinfonien von Mendelssohn und Schumann, beide aus Paris, beide bei der DG, belegen, dass sich der charismatische Kanadier im romantischen Repertoire offenkundig sehr wohl fühlt.

Zügig geht es los in der Ersten Sinfonie op. 68, nicht so gravitätisch wie beispielsweise bei Bernstein, doch das Ganze hat auch eine gewisse Stringenz. Selbst, wenn es kurz vor Ende etwas knallig wirkt, wird der Schluss des Kopfsatzes ermattet schön gespielt. Das Solo der wunderbaren Konzertmeisterin Lorenza Borrani im langsamen Satz lässt mich in all seiner zarten Süße an den tragisch verunglückten Gerhart Hetzel denken (Wiener/Bernstein). Bei Bernstein sind es übrigens elf Minuten, hier nur knapp neun, und dennoch wirkt alles in sich ruhend. Herrlichste Klarinettensoli im dritten Satz, triumphal das Ende der Sinfonie mit dem an Beethovens Neunte angelehnten Thema – eine Hommage an den übermächtigen Schatten Ludwigs, die doch laut Brahms „jeder Esel“ erkenne.

Die Zweite Sinfonie op. 73 ist womöglich meine liebste aller vier, doch gleich einem Vater, der seine vier Kinder gleichermaßen liebt, mag ich mich nicht entscheiden. Hier, in dieser Einspielung, scheint sie die tiefenentspannteste aller vier. Nézet-Séguin kostet alles aus, sanfteste Einsätze von John Chimes an der Pauke untermalen es, wenn es nötig ist, und die Cellogruppe klingt im langsamen Satz vorzüglich. In Pörtschach begonnen, vollendete der Meister sie im Oktober 1877 in Lichtental, damals bei Baden-Baden, nun eingemeindet. Es ist ein herrliches Werk, zu dem ich immer gern in verschiedensten Aufnahmen zurückkomme. Die hier zu hörende Lesart passt perfekt zum Baden-Badener Sommer: alles ohne Stress, tiefgründig, ohne Hast und obendrein an schönen Orten komponiert. Unübertroffen bleibt für mich auch in der Zweiten Carlos Kleiber, in der DVD-Aufnahme mit den Wienern (Philips 070 161-9).

Höhepunkt der Gesamtaufnahme sollte für mich die Dritte Sinfonie op. 90 sein. Sie war zusammen mit der Vierten am 7.7.2023 in Baden-Baden erklungen, wo die Berliner in diesem Jahr auch die Vierte spielten. In der Dritten jedoch gefiel mir der Liveeindruck wesentlich besser als das Resultat auf CD. Ja, es drängt aufs Schönste, insbesondere in der Durchführung des Kopfsatzes (Track 1, ab 6:14), die für mich auch live zu den Highlights des Yannick’schen Schaffens gehört. Das ist mitreißend und auf ganz andere Art ebenso ergreifend wie das Requiem des gebürtigen Hamburgers Brahms. Dennoch fehlt dieser Dritten zu meiner eigenen Überraschung insgesamt ein wenig die Cremigkeit, die Fülle, das „Da könnte ich mich reinsetzen“ des sinfonischen Brahms’schen Idealklangs. Und das trotz üppigen Vibratos und toller Einzelleistungen in den Blasinstrumenten. Ich erkläre es mir so, dass auch der Konzerthörer bzw. CD-Kritiker seine Tagesform hat. In bester Erinnerung bleibt die Dritte unter Yannick mit dem Philadelphia Orchestra in Dortmund sowie mit dem BRSO in Hamburg.

Die Vierte Sinfonie op. 98 hingegen kann, ebenfalls zu meiner Überraschung, mit den ganz wichtigen Einspielungen mithalten. Die herrlichen Bassgrundierungen etwa im zweiten Satz (Track 6, ab 7:54 und nochmal ab 10:30) sind zum Beispiel genau das, was in der Dritten ein wenig zu kurz kam. Das Scherzo ist voller Kraft. Clara Andradas Solo im Finalsatz gehört zur feinsten Flötenkunst, die man dieser Tage auf unserem Planeten erleben kann. Und die Choralvariation der Posaunen klingt erschütternd gut.

CD 1 und 2 hätten gern durch die eine oder andere Ouvertüre ergänzt werden können, aber wir wollen uns nicht beklagen. Es liegt eine überzeugende Einspielung auf drei CDs vor, die Freude bereitet.

Dr. Brian Cooper, 26. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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