Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Ja, die Strauß’sche Walzerdynastie. Von Liebhabern als Ausdruck der Schönheit verehrt, von Kritikern als platt und oberflächlich inbrünstig gehasst. Kein anderes Werk der Familie Strauß ist wohl so bekannt, wie der Donauwalzer von Johann Strauß (Sohn), obwohl sich an dieser heimlichen Nationalhymne Österreichs die Geister scheiden.
Viele würden sich nun die Frage stellen: Ist das Kunst oder kann das weg? Ist das noch Ausdruck des Schönen oder plumper Kitsch? Das Oxford Language-Wörterbuch beschreibt Kitsch als „Kunstprodukt, das in Inhalt und Form als geschmacklos und meist als sentimental empfunden wird“, der Duden sieht im Kitsch einen „geschmacklos gestalteten, aufgemachten Gebrauchsgegenstand“. Sind solche Werturteile im Bezug auf Musik wirklich hilfreich?
Natürlich kann man sich auf diese Debatte einlassen; die Fragen aufwerfen, ob der Walzer generell und der Wiener Walzer im Speziellen eine „primitive Gattung“ wäre. Ob es sich bei dieser Form von Gebrauchsmusik überhaupt um „hochwertige Kunst“ oder „geschmackvolle Musik“ handelt. Am Ende aber wird solch ein Diskurs keine Seite zufriedenstellen. Die Definition von „Kunst“ ist zu individuell und damit der Empfindung jedes Rezipierenden überlassen. So sagte auch schon David Hume: „All sentiment is right“. Nein, die Frage nach Kunsthaftigkeit stellt sich bei diesem Stück genauso wenig, wie bei jedem anderen. Das Problem des Donauwalzers ist ein viel tiefgreifenderes, denn was viele nicht wissen dürften: Er ist schamlos recycelt.
Ja, es hätte so schön bei den wohligen Debatten über Kunst und Kitsch bleiben können – wäre da nicht 2015 der Musikwissenschaftler Norbert Linke gekommen. Akribisch dröselte er in seinem Aufsatz „Ausstehende Informationen zum Meisterwalzer“ auf, mit welch dreistem Selbstplagiat wir es hier zu tun haben. Linkes Aufsatz wirft kein gutes Licht auf das so populäre Stück Wiener-Walzer-Geschichte: Ausnahmslos alle Melodien kann Linke früheren Werken von Johann Strauß (Sohn) zuordnen.
Egal also, ob man nun das berühmte erste Walzerthema (abgeschrieben aus dem „Wiener Chronik“-Walzer op. 268 und von Es-Dur nach D-Dur transponiert), die zweite Walzerpassage (kopiert aus dem „Motoren“-Walzer op. 265), Plagiate aus dem „Klangfiguren“-, dem „Fünf Paragraphe“- oder dem „Gedankenflug“-Walzer anschaut… nichts an diesem Konglomerat ist Original. Es scheint so, als wären dem guten Strauß bei der Niederschrift dieser Selbstkopie einfach keine neuen Ideen mehr eingefallen. Schlimmer noch: Beim Bezug auf seine Originale stellt er sie nicht einmal in ein neues Licht. Dadurch reduziert er sie auf spröde Kopien.
Oder waren vielleicht die davor schon genutzten Melodien einfach zu schön? Vielleicht war ihm auch der Anlass dieser Komposition einfach nicht wichtig genug, um sich etwas Neues auszudenken? 1865 bot er die Komposition dieses Walzers nur deshalb an, weil er das Angebot ausschlagen musste, im Wiener Männergesang-Verein mitzuwirken. 1866 musste der Verein ihn sogar an sein Versprechen erinnern, damit er überhaupt mit der Komposition begann. Vielleicht ging Strauß auch davon aus, dass die spröde Kopie niemandem auffallen würde, sobald die Musik mit den Gesangsstimmen unterlegt würde? 150 Jahre ging es ja augenscheinlich gut. Zu dumm nur, dass sich heute fast niemand mehr für die Chorfassung erwärmen kann.
Der Donauwalzer könnte damit einer der größten Kopie-Skandale der klassischen Musik sein. Denn ausgerechnet dieses Plagiat hat sich als einer der kulturwirksamsten Walzer weltweit erhalten. So steht heute fest, dass nicht nur die Uraufführung ein großer Erfolg war. Auch auf der Pariser Weltausstellung 1867 schlug er ein wie eine Bombe. Zeitgenossen wie Eduard Hanslick bezeichneten ihn gar als „wortlose Friedens-Marseillaise“. Den Höhepunkt erreichte dieser Walzer dann 1945, als er ersatzweise für die damals nicht vorhandene österreichische Nationalhymne herhalten musste.
Natürlich kann man sich nun fragen, was diesen technisch doch sehr fragwürdigen Walzer so populär macht. Die leicht flockigen, eingängigen Melodien unterlegt mit dem klassisch rhythmischen Duktus des Walzers sind sicher das eine. Die damit verbundenen Gefühlsregungen von wohliger Selbstzufriedenheit und Idylle das andere. Dass Strauß diese Eindrücke bis auf Hochglanz poliert hat, fällt allein in der breiten Instrumentation auf.
Da darf die Frage auch erlaubt sein, ob der diesem Werk innewohnende Klimbim nicht übertrieben ist? Ob das nicht wirklich kitschig ist? Die Antwort darauf sei jedem selbst überlassen. Der sentimental und bewusst aufgemachte Charakter dieser doch sehr einfachen Musik ist sicherlich auffällig, erlaubt aber kein absolutes Urteil über ihre Qualität. Was für die einen Ausdruck von Schönheit ist, mag für andere oberflächliche Gefühlsduselei darstellen.
Mit seinem schamlosen Recycling hat Strauß aber eindeutig den Vogel abgeschossen! Solche Abschriften verschwinden ansonsten zurecht in der Versenkung. Dass sich ein Werk so offenkundiger (Selbst)kopie aber so hoch ins Pantheon der klassischen Musik schwingen konnte und da bis heute wie ein Schmarotzer festkrallt, ist ein Skandal. Denn es setzt inhaltlich nicht nur nicht die Anforderungen an einen Hörenden wie eine Sinfonie, ein Requiem oder eine Oper. Sondern diese Art der Komposition entwürdigt auch die harte und gewissenhafte Arbeit anderer Komponisten. Und diese Feststellung führt mich dann auch letztendlich zu der Meinung, dass der Donauwalzer ein völlig überbewertetes, plattes, kitschiges und zu Unrecht gehyptes Stück Orchestermusik ist.
Daniel Janz, 28. Mai 2021, für
klassik-begeistert und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
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