Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Manchmal ereilt Komponisten das undankbare Schicksal, dass ihr Repertoire auf einige wenige Werke oder Ausschnitte reduziert wird. Viel zu oft passiert es sogar, dass solche Komponisten gänzlich in Vergessenheit geraten. Andere bleiben nur über ein oder zwei ihrer Werke in Erinnerung, manchmal sogar nicht einmal mehr durch den Titel sondern nur durch eine markante Melodie. Besonders ärgerlich ist das, wenn ebensolche Melodien in Radio, Fernsehen oder zu anderen Anlässen rauf und runter gespielt werden, während dem Komponisten oder dem Werk nicht einmal ein anerkennendes Wort gewidmet wird. Einer dieser tragischen Fälle soll hier behandelt werden: Die Rede ist von Prokofjew.
Es ist ein Mysterium des 20. Jahrhunderts, warum dieses Genie europäischer klassischer Musik, das viel zu jung gestorben ist, nicht häufiger in den Konzertsälen aufzufinden ist. Mit einer beeindruckenden Liste an Opern, Balletten, Sinfonien, Solokonzerten, Kammermusiken, Chor- und Liedwerken bietet Prokofjews Erbe für jedermanns Geschmack etwas an. Sei es klassisch/romantische Musik, moderne Experimentalkompositionen oder Orchestermärchen – für viele dürfte da etwas dabei sein.
Immerhin haben sich ein paar seiner Werke im Konzertbetrieb erhalten. Eine seiner bekanntesten und zugleich farbenfrohsten Kompositionen ist neben „Peter und der Wolf“ seine Ballettmusik zu „Romeo und Julia“. Ein Werk, mit dem Prokofjew in große Fußstapfen trat: Bereits Tschaikowsky hatte sich diesem Stoff gewidmet und damit ein kulturell bis heute wirksames Meisterwerk geschaffen, das es zu übertreffen galt. Und auch, wenn Prokofjew es nicht schaffte, den Stoff in knapp 20 Minuten zu verarbeiten, wie sein spirituelles Vorbild, so vollbrachte er doch eine knapp 60 Minuten lange Glanzleistung.
Auch deshalb ist es tragisch, dass Prokofjews Schaffen so wenig gewürdigt wird. Zwar ist „Romeo und Julia“ eines seiner häufig aufgeführten Stücke. Doch wenn es um den Wiedererkennungswert geht, sticht der Tanz der Ritter als Eingangssatz zur Komposition heraus. Dieser Teil ist besonders durch seinen schwer stampfenden, wankelnden Grundpuls bekannt. Zu diesem tragen Posaunen, Tuba und Trommel bei, während die Streicher ihr bekannt trabendes Auf und Ab zelebrieren. Ein Part mit Ohrwurmcharakter – was leider dazu führt, dass er schamlos aus dem Kontext gegriffen wird, während der Rest der Komposition in den Hintergrund rückt.
Die traurige Folge ist, dass durch den Fokus auf diesen winzig kleinen Ausschnitt nicht nur der Rest der Komposition droht, vergessen zu werden. Sondern der „Tanz der Ritter“ ist obendrein auch zu einem regelrechten Klischeewerk geworden – massenhaft Referenzen inklusive. Es braucht nicht erst Robin Williams, der zu Prokofjews Rittertanz lauthals verkündet „party like a Russian – end of discussion“. Man kann auch einfach auf die Computerspielebranche blinzeln, wo sich beispielsweise Civilization V auf dieses Werk als Hymne der Russischen Zivilisation bezieht:
Zusätzlich erweitern Samples, wie von Iron Maiden, Mariska, Sia, oder wie in diesem Beispiel Hollenthon zwar immerhin das Material, tragen aber zum Ausdruck desselben auch nicht viel mehr bei, als ihn durch Unterwerfung in ein anderes Genre zu dekonstruieren oder durch Schärfung des Klanges noch zu brachialisieren:
Besonders banal ist die „Würdigung“, die dieser Ausschnitt als Bühnenbegleitmusik erfährt. Wenn The Smiths, Muse, Tears of Fears, Deep Purple und dutzende weitere Interpreten dieses Stück als „Walk-In“-Musik massakrieren, hat das nichts mehr von ritterlicher Erhabenheit oder romantisch/tragischer Dramatik. Die Interpretation als Glorifizierung des Gehens scheint hier eher angebracht.
Der besondere Zynismus, der bei dieser Verwendung mitschwingt, dürfte wohl den wenigsten bewusst sein. Prokofjew starb ausgerechnet an demselben Tag wie Stalin. Wegen der landesweiten Trauer um den Diktator musste Prokofjews Sarg per Hand durch Seitengassen aus dem Moskauer Zentrum in Richtung Friedhof geschafft werden. Ein wahrer Spießrutenlauf, der unter normalen Umständen bereits mehr als eine Stunde dauert, mit Sarg und in entgegengesetzter Richtung zu abertausenden zum Roten Platz pilgernden Trauergästen aber sicher ein Vielfaches beansprucht haben dürfte. Nach solch einem letzten Gang ausgerechnet für eine Musik in Erinnerung zu bleiben, die als Versinnbildlichung des ausdauernden Gehens genutzt wird, ist schon eine besondere Form von Häme.
Eine solche Dekontextualisierung tut deshalb nicht nur der eigentlichen Komposition einen Bärendienst – denn wer außer Kennern weiß heutzutage noch, dass es sich ursprünglich um „Romeo und Julia“ und nicht einen Bühneneinstand handelt? Solche popkulturellen Auswüchse schmähen auch das ohnehin bereits stiefmütterlich behandelte Andenken an den Komponisten. Insbesondere, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen Prokofjew seine Musik in Zeiten des sozialistischen Realismus zu einer stark regulierten, rigiden Kulturpolitik schuf. Vor dem Hintergrund solch beeindruckende Musik zu schaffen hat vor allem eins verdient: Bewunderung. Ihm diese auch wieder ehrlich zukommen zu lassen, soll daher der Aufruf sein, mit dem dieser Beitrag (ergänzend zum Beitrag über Prokofjews Skytische Suite) endet.
Daniel Janz, 3. September 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 26: Giuseppe Verdi – „La donna è mobile“ aus „Rigoletto“ (1851)