Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Essenz einer Reihe über überbewertete Klassiker ist es, dass auch ab und an wahre Meisterwerke ihr Fett wegkriegen müssen. Egal, ob die Gründe banal sind, ob sich Fehler, Schwächen oder Probleme direkt in der Komposition zeigen oder ob die Aufführungspraxis zu wünschen übriglässt. Nur wenn man darüber spricht, besteht auch die Chance auf Veränderung und hoffentlich Besserung. Und so kommt es, dass nun auch Bruckners vierte Sinfonie in dieser Reihe erscheinen muss – eine Sinfonie, die unter Bruckner-Kennern als die beliebteste zählt.
Eigentlich sträube ich mich dagegen, dieses Werk – auch eine von meinen Lieblingssinfonien – in dieser Kolumne mitaufzunehmen. Sie ist im Vergleich zu anderen häufig gespielten Sinfonien, wie Beethovens oder auch Mahlers fünften weniger ausgereizt und wird auch nicht so sehr in anderen Medien entkontextualisiert, obwohl auch sie einen dramaturgischen Wandel widerspiegelt. Auch wenn dieser – im Gegensatz zu den Beispielen von Beethoven und Mahler – nicht von einem tiefen Abgrund hin zu Licht strebt, zeichnet sie sich durch ihren romantischen Charakter und ihr strahlendes Finale aus. Ein Ausdruck also, der von vielen Komponisten unterschiedlich und zumeist mit eindrucksvollen Mitteln notiert wurde. Was also macht diese Sinfonie in einer Reihe zu überbewerteten Stücken?
Die Antwort auf diese Frage findet sich in den Konzertspielplänen. Bruckners vierte Sinfonie ist im Vergleich zu seinen anderen Werken überschaubar besetzt und nicht an extravagante Instrumente oder außergewöhnlichen Aufwand gebunden. Holzbläsergruppe und Schlagzeug sind selbst in überarbeiteten Fassungen regelrecht sparsam vorhanden. Dazu ist sie eine der malerischsten Kompositionen Bruckners.
Sie sehen – das hier ist keine Kritik an einer für sich stehenden, beeindruckenden und unterhaltsamen Sinfonie, weshalb ich sie auch parallel in meinem neuen Beitrag zu „meiner Lieblingsmusik“ behandle. Bruckners Kompositionsweise mag heute ein wenig eingestaubt wirken, immerhin bediente er sich eines stark durchstrukturierten, kontrapunktischen Stils, der als reine Sinfonik seine Stärken, aber auch Schwächen hat. So ist seine Musik häufig schwer, braucht mehrere Anläufe, um sich zu einem Höhepunkt durchzuringen und lebt vor allem durch den spannungsreichen Aufbau der Themen zueinander aber nicht durch Abwechslung oder freie Läufe.
Was dazu kommt, ist ein regelrechtes Kuddelmuddel um die verschiedenen Versionen, die Bruckner nicht nur zu dieser, sondern zu vielen seiner Sinfonien hinterließ. So ist jeder Abend wieder mit einer Überraschung verbunden: Wird in dieser vierten Sinfonie das Original-Scherzo von 1874 oder die revidierte Fassung von 1878/1880 aufgeführt? Gibt es im vierten Satz nun den Beckenschlag oder nicht? Wird das gekürzte oder das längere Finale gespielt? Fragen, die letztendlich der Auswahl des Interpreten überlassen sind. Aber auch das ist nicht zwangsläufig ein Makel, immerhin lässt sich so in ein und demselben Werk immer etwas Neues entdecken.
Diese persönlichen Vorlieben an Bruckners Musik, die genauso gut auf eine Geschmacksfrage hinauslaufen können, sind also auch nicht dafür ausschlaggebend, warum diese Sinfonie in einer Reihe zu überbewerteten Stücken erscheint. Denn letztendlich sind dies alles auch Gründe, warum sich diese Sinfonie auch heute großer Beliebtheit erfreut.
In dieser Beliebtheit liegt das eigentliche Problem: Keine andere Komposition von Bruckner wird so oft, teilweise sogar mehrmals über wenige Monate hinweg in ein- und demselben Konzerthaus gespielt. Schaut man nur auf Nordrhein-Westfalen und noch nicht einmal auf die Konzerthäuser weiter im Norden, Osten oder Süden der Republik, drängt sich der Eindruck auf, diese Sinfonie würde alle zwei Wochen gespielt. Beispiel? 19. und 20.9.2021 in Wuppertal, 27.9.2021 in Köln, 3.11.2021 wieder Köln, 17. und 18.12.2021 noch einmal Köln, 9.3.2022 in Dortmund, 20.3.2022 Düsseldorf und zu guter Letzt 22.3.2022 in Köln. Und das sind nur die Spielstätten, in denen die Konzertsuche nicht durch unsäglich schlechte Internetseiten blockiert wird, wie beispielsweise in Aachen, Bielefeld, Bonn, Gelsenkirchen, Hagen, Leverkusen oder Münster.
Nein, Sie lesen richtig – was anmutet wie der Tourenplan eines weltbekannten Pop-Stars sind die Aufführungsdaten ein und derselben Sinfonie in Städten, die teilweise nicht einmal eine Stunde Fahrzeit voneinander entfernt liegen. Besonders verwundern die Termine in ein und derselben Stadt. Es kann ja passieren, dass im Rahmen eines Abokonzerts dieselbe Aufführung an zwei oder drei Tagen hintereinander stattfindet. Auch der Vergleich zwischen zwei unterschiedlichen Orchestern kann reizvoll sein, wenn einmal ein Gastorchester vor Ort ist. Aber viermal? Dasselbe Stück von unterschiedlichen Orchestern an ein und demselben Ort? Spricht man im Kulturmanagement nicht mehr miteinander, oder wie kommt es zu so einem Unsinn? Wer soll sich das denn alles noch anhören?
Diese Tendenz, sich auf ein Werk zu versteifen, erleben wir nicht nur bei Bruckner. Genauso gut könnten Mozarts letzte drei Sinfonien, Schuberts achte, Mahlers fünfte und neunte oder Beethovens fünfte und siebte Sinfonie (seine neunte war ja bereits Gegenstand dieser Kolumne) hier stehen. All diese Werke finden ebenfalls einen nahezu inflationären Einsatz im Konzertbetrieb. Die guten Herren haben aber nicht nur jene zwei oder drei Werke geschrieben! Auch Bruckner hinterließ noch 9 weitere, ebenfalls reizvolle Sinfonien. Davon abgesehen endet der Fundus lohnenswerterer Sinfonien ja nicht mit Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler.
Die klassische Musik lebt nicht nur von Klassikern. Sie lebt vor allem von unterschiedlichen Stücken, alt wie modern, die sich in bunter Mischung aus Mut und Ausdruck ihrem Publikum präsentieren, um zu bewegen, zu unterhalten und zu bereichern. Ist ein Spielplan so einfallslos, dass er immer nur dasselbe in Grün präsentiert, kann von Mut, Abwechslung und Modernität keine Rede sein. Im Gegenteil, zu viel Aufführungspraxis führt zu Übermüdung oder sogar Überdruss. Ich ziehe es dann beispielsweise vor, mich auf Orchester mit weltweit herausragendem Ruf zu konzentrieren und die gleichen Aufführungen konkurrierender Orchester sausen zu lassen. Denn nur bei maßvoller Beschränkung erhält Kunst auch ihren Stellenwert. Bei andauernder Berieselung kann selbst höchste Qualität zu Langeweile und im schlimmsten Fall sogar zur Abscheu führen. Und was passiert wohl mit einem Kulturbetrieb, der sich in Langeweile und Abscheu erstickt? Er wird sein Publikum verlieren.
Was ist damit also nun gewonnen, ein und dasselbe Werk bis zur Auswendigkeit runterzududeln? Einerseits spricht es für dessen hohen Stellenwert und Bruckners Beliebtheit. Gleichzeitig aber spricht es auch Bände gegen das vorherrschende Konzertmanagement. Darüber hinaus werden dadurch andere, mindestens ebenbürtig eindrucksvolle Werke verdrängt. Und kann das der Sinn eines Konzertbetriebs sein, geschweige denn von kulturerhaltender Praxis? Ich wage es zu bezweifeln.
Daniel Janz, 8. Oktober 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 31: Erik Satie – 3 Gymnopédies (1888-1895)